Orloks Schnäuzer
Von Maik Rudolph»Eine Symphonie des Grauens« (1922), »Phantom der Nacht« (1979), »Der Untote« (2024) – ohne Unterzeile macht es Nosferatu nicht im Deutschen. Die jüngste Iteration trägt im US-Original keine, so wie die englischsprachige Fassung von Friedrich Wilhelm Murnaus Klassiker des expressionistischen Films, an dem sich Robert Eggers Szene für Szene abarbeitet, ohne die feinen Nuancen von Werner Herzogs nächtlichem Phantom zu beherzigen. Bereits die schwarzweiße Titlecard zu Beginn macht deutlich, dass Eggers eine Hommage abliefert, durchaus technisch avanciert, aber hinter seinem Potential geblieben.
Die Handlung ist bekannt: Bram Stoker hat sie 1897 niedergeschrieben; Murnau sparte sich die Lizenzgebühren, aus London wurde die fiktive deutsche Küstenstadt Wisborg, Mina und Jonathan Harker zu Ellen und Thomas Hutter – »Nosferatu« ward geboren. Der frischvermählte Hutter reist im Auftrag seines zunehmend dem Wahnsinn verfallenden Kanzleichefs Nicht-Renfield in die Karpaten, soll dem Nicht-Graf-Dracula, Graf Orlok, ein Anwesen in Nicht-Wismar verkaufen. Der Graf reist ins neue Domizil, um an Frau Hutter zu saugen. Bei Murnau heißt es wenigstens noch, der Graf nimmt erst ein Floß, dann ein Segelschiff – in diesem Film fragt man sich dagegen, wie der direkte Wasserweg aus Siebenbürgen an die norddeutsche Küste aussehen soll. Vielleicht überquert er den Genfer See mit einem Schiff der weltgrößten Reederei MSC aus der Schweiz? Herzog hingegen lässt sich Zeit: Er zeigt die Flößer, zeigt, wie des Grafen Särgepotpourri am Schwarzmeerhafen Warna verladen wird. Es sind die kleinen Details, die gerade dann herausstechen, wenn ein Film sich zu lang anfühlt.
Eggers kocht den alten Schwarzweißeintopf auf: zwar nichts neues, dafür aber beeindruckend. Viele Minuten möchte man immer wieder nur auf Toilette rennen, es ist düster, kalt, keine Wärmequelle im Film erreicht den Zuschauer, bis man kuschelig vor Orloks (Bill Skarsgård) Kamin sitzt. Eggers nutzt und fängt natürliches Licht so gekonnt ein wie Stanley Kubrick in »Barry Lyndon« (1975), der sich dafür teure Objektive der NASA organisieren musste. Im Flackern der Kerzen huscht Orlok wie ein Schattenwesen umher, sowieso ist es bei einem Dracula und Lucky Luke immer der Schatten, der seinem mystischen Auftreten die Gravitas verleiht. Um so weniger intelligibel die Bewegungen für den Zuschauer werden, desto mehr wird Hutter – gespielt von Nicholas Hoult, der auch schon mal Renfield in einer gleichnamigen Horrorkomödie mit Graf Nic Cage war – in den Bann des karpatischen Dämonen gezogen, immer benommener, so auch der Blick des Zuschauers. In der Totale erzählt Eggers die Geschichte, eindrucksvolle Bilder; der Trick nutzt sich etwas ab.
Mit seinem Erstling »The Witch« (2015) hat Eggers – zusammen mit den im selben Zeitraum erschienenen »Ex Machina« und »The Lobster« – dem Produktionsstudio A24 zum Erfolgslauf verholfen und das Kritikerwortneugeschöpf »Elevated Horror« in die Feuilletonspalten getragen. Dieser Untote ist sein bisher eingängigster Film. Wenig Neues hievt er aufs Tableau. Julian Radlmaiers »Blutsauger« (2021) hat gezeigt, dass man aus dem ausgequetschten Mythos noch ein paar Tropfen herausholen kann, wenn er den in Ungnade gefallenen Darsteller Trotzkis in Eisensteins »Oktober« (1928) zur baltischen Bourgeoisie fliehen lässt, denn »das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt«, Bram durch Karl gefiltert. Eggers schenkt uns nun Nosferatu mit dickem, gut gepflegtem Schnurrbart am zerfallenden Korpus – eine Anspielung auf Vlad den Pfähler, die Inspiration der belletristischen Mythologisierung. Historisch korrekt möchte er es haben; die karpatischen Bergvölker scheinen noch aus dem Mittelalter zu sein, dafür ist sein Wisborg, eine beeindruckende Kulisse aus den Prager Filmstudios Barrandov, Abbild des viktorianischen Englands. Das »Phantom der Nacht« präsentierte ein sehr deutsches, rau nordisches Nicht-Wisborg namens Wismar. Ein Realismus des Neuen Deutschen Films, der den expressionistischen Charakter des Originals konterkariert. Expressiv wird es auch, wenn Eggers riesige Schattenhände über die Stadt fliegen lässt – ob dieser gezwungenen Hommage muss man schmunzeln. Nicht weniger, wenn Orlok mit dem vermeintlich ursiebenbürgischen Dialekt spricht. Der größte Lacher ist Eggers’ neue Muse Willem Dafoe – sein bisher dritter Film mit ihm –, dessen Rolle als Dr. Nicht-van-Helsing wundervoll over the top daherkommt, wie Mel Brooks als eben jener in seiner Parodie von Francis Ford Coppolas »Bram Stoker’s Dracula« (1992): »Dracula – Tot aber glücklich« (1995).
In Wisborg geht die Pest von Bord, überall Ratten. Bei Murnau eine Randnote, für Herzog das Herzstück: Die Stadt leert sich, der Marktplatz füllt sich mit Särgen, Marktstände zerfallen, ein Danse macabre. Bei Eggers gibt es leider nur vage Anspielungen auf das überstrapazierte Wort Pandemie, um alle Assoziationskanäle durchzulüften.
Skarsgårds Vampir ist kein Edelmann, kein Bela Lugosi oder Gary Oldman, sondern eine Bestie, die es auf die zerbrechliche Ellen (Lily-Rose Depp, Tochter von eben jenem) abgesehen hat. Sie ist besessen von ihm, er will sie besitzen. Ihr wird Melancholie attestiert, sie soll im Bett ein Korsett tragen und dort fixiert werden, dialektisch zugleich die Barbarei der Zeit, aber auch ein Fortschreiten des Mythos als Wissenschaft. Sie windet sich, herausragend choreographiert mit ihrer japanischen Butoh-Lehrerin, an den Exorzisten erinnernd. Sie opfert sich, nimmt ihr Schicksal in die eigene Hand, weiß, es ist die einzige Möglichkeit, den Alptraum zu beenden, den Grafen zu vernichten. Kein neues Ende, wie in allen drei Versionen. Herzog ging abermals weiter: Hutter wird zum Vampir und van Helsing des Mordes am unbescholtenen Orlok beschuldigt.
»Nosferatu – Der Untote«, Regie: Robert Eggers, USA 2024, 132 Min., bereits angelaufen
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