Sumpfdotterblume im Frost
Von Ken MertenKein Schimmer, wie sich »Unter Wölfen« liest, wenn man für Metal nichts übrig hat. Denn der neue Roman von John Wray – Pseudonym des US-amerikanisch-österreichischen Autors John Henderson – ist ein handwerklich heikles Ding. Mit einem gerüttelt Maß an belletristischer Altersdiskriminierung lässt sich einiges, was stilistisch scheitert und schiefläuft, als Gattungseigenschaft von Coming-of-Age-Literatur legitimieren. »Unter Wölfen« erzählt mittels erzählökonomischer Misswirtschaft und dieser und jener Stilblüte aus dem Leben dreier Teenager Ende der 80er in Florida. Im ramponierten Bundesstaat halten sich Arschlöcher in Uniform nur an ein Gesetz, und das ist, dass ihre Willkür entscheidet, wer eine Nacht hinter Gittern verbringen darf.
Leslie Z darf, wenig überraschend. »Er war schwarz, er war bisexuell und er war Fan von Hanoi Rocks.« Ein doppeltes Ziel für Flachlandhillbillys an der Ostküste, nein, ein dreifaches: »Vor allem das dritte Manko kam Ende der Achtziger einem Selbstmord gleich, als es an Floridas Golfküste bereits genügte, sich das Haar zu föhnen, um von Bikern, Skinheads oder irgendeinem verpickelten Banger mit Carnivore-Shirt zu Kompott geprügelt zu werden. Sex mit Jungen zu haben oder haben zu wollen war dagegen eine Bagatelle. Glamrock war out, Death Metal war in.« Kontraintuitiv wird hier das Schwermetallfass aufgebrochen: Ja, es geht hier jugendliterarisch darum, dass die Welt sich dem Heranwachsenden entgegenstellt, weil er nicht weiß und hetero ist; aber Kerngeschäft von »Unter Wölfen« ist die Verhandlung der Geschichte des Heavy Metal um 1990 herum.
Man kennt sich
Das bindet Leslie, der als Adoptivsohn halbwegs wohlhabender Hippies zumindest keine Geldsorgen hat, an Kip und Kira, zwei gleichaltrige Peripherieprolls. Kip ist zu seiner »Oona« gezogen, von seiner suchtkranken Mutter erfährt er nur, wenn sie per Post um Geld bittet. Kip kippt: In emotionalen Extremsituationen verliert er jegliche Kontrolle über sich und rastet aus; »der weiße Raum« ist, von ihm so getauft, das, was er da betritt. Mit Gewalt kennt sich Kira sehr gut aus; was ihr Vater ihr antut, bleibt hinter Andeutungen verborgen, so, wie es vier Wände tun.
Verborgen bleibt derweil wenig, was im Metal jener Jahre vonstatten geht, schließlich befindet sich das Trio zwar im Versuch der USA, das postsozialistische Ostdeutschland mit nordamerikanischen Charakteristika vorwegzunehmen; dafür ist Florida aber Epizentrum des Death Metal: Bands wie Cannibal Corpse, Deicide, Morbid Angel und Obituary shredden sich durch die Sümpfe. Man kennt sich: Chuck Schuldiners Mutter geht in dieselbe Kirche wie Leslie Zs Adoptivmutter. Das 2001 an einem Gehirntumor verstorbene Mastermind der Band Death ist einer von vielen Promis der Metalwelt, die in »Unter Wölfen« ihren Auftritt haben. Schuldiner aber ist keine Figur, die an der Handlung direkt beteiligt ist, auch später, wenn Kip, Kira und Leslie Z an die Westküste und nach Hollywood umgesiedelt sind, ist Mötley-Crüe-Frontmann Vince Neil nur Staffage des androgyn-misogynen und turbohedonistischen Glam Metal: Neil liegt vollgekotzt im Klo jener Bar, in der Kira die Drinks ausschenkt.
Erst in Norwegen wird es tragend, das musikhistorisch relevante Personal: Mit Varg Vikernes (Burzum und Mayhem) geht Kip ein Stück des Weges der antichristlich-neuheidnischen Identitätspolitik mit und fackelt mit dem Pilze naschenden Kolonialismusmissversteher, esofaschistischen Dummschwätzer und späteren Mörder seines Bandkollegen Øystein »Euronymous« Aarseth eine Kirche ab. »Die Vorstellung, ein paar Dutzend paranoider Depressiver mit Impulskontrollproblemen könnten eine ernsthafte Gefahr für den Zusammenhalt der skandinavischen Gesellschaft bedeuten, wollte Kip kaum einleuchten«, heißt es, und wiederholt wird der geistige Altersunterschied aufgemacht: Die, die sich da als Sekte formieren und mit der Außenwelt höchstens noch Venom gemeinsam haben wollen, sind schlichtweg Kinder. Kip und Co. sind weiter.
Baden gehen
Eine Bewegung also, und diese spiegelt der Originaltitel »To the Wolves« weit besser. Und würde ein Thrasher einen von ihm als diesen ausgemachten Fan von Hair Metal blöd anmachen, er würde ihn in deutscher Sprache wohl kaum als »Haarschwuchtel« beschimpfen, sondern den ersten Teil der Wortschöpfung im Englischen belassen. Überhaupt sind, auch abseits der Übersetzung, ärgerlich viele Schnitzer zu finden. Der Autor ist nicht unschuldig: Denn wahrscheinlich hätte niemand Afghanistan und Kosovo als Metalepsen für sogenannte Friedensmissionen genutzt, ehe man in Jugoslawien und Afghanistan einmarschierte und die Kriege nicht Kriege nennen mochte.
Tiefenkorrekt aber sind Wrays Analysen des Metal: Zwischen Death und Black Metal existiert ein gigantischer Temperaturunterschied. »Eingebettet in dieser Wärme – darin verborgen – existierte eine kryptische Form lebensbejahender Macht. Deicide, Death oder Morbid Angel spielten ihre Riffs, um Tote zu erwecken, nicht, um sie zu begraben.« Die posthumanistischen Eisbruchstücke, die Kip von einer Black-Metal-Band in Berlin akkordeweise in die Ohren getrieben werden, sind dagegen »drahtdünn, gezackt, wie aus Glas, ganz ohne Low End«; der Versuch, ein Nichts herzustellen. Hört man durch die Ohren Kips – der sich zum Musikjournalisten gemausert hat – diese winterliche Leere, dann stellt sich ein seltsamer Doppelbindungseffekt ein, gingen er, Kira und Leslie Z doch – gesetzlich vorgeschriebener Plotpunkt des Coming-of-Age – noch in Florida in einem Gewässer baden. »Sie wussten nur zu gut, dass die Quelle ein Hort uralter Mysterien war, Born spektraler Energie und einer der sieben Nabel der mystischen Welt.« Auf Drogen sieht Kira, wie die Sumpfdotterblume Metal einfriert und die Welt zu Norwegen wird: »Da ist es eisig, Kip. Da ist es Winter. Bitte, lass mich da nie allein zurück.«
John Wray: Unter Wölfen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt, Hamburg 2024, 480 Seiten, 26 Euro
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