Gefrorenes Geld
Von Ronald Kohl
Die Geschichte von dem Truthahn, der mit einer Brille durch die Straßen einer nordamerikanischen Metropole läuft, hat ihren Ursprung in der Zeit der Großen Depression, so erzählt es jedenfalls der kanadische Filmemacher Matthew Rankin im Interview mit sich selbst. Damals, zu Beginn der 1930er Jahre, entdeckte Rankins Großmutter gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder im tief verschneiten Winnipeg eine Zwei-Dollar-Note auf dem Gehsteig; zu der Zeit ein Haufen Moos, der die dringendsten Nöte der Familie hätte lindern können. Nur war der Schein leider eingefroren.
In »Universal Language« findet die ungefähr zwölf Jahre alte Negin plötzlich Geld, das sich ebenfalls unter einer dicken Eisschicht befindet, als wäre es die wohlverdiente Rente von Väterchen Frost. Negin braucht die Kohle unbedingt. Allerdings nicht für sich. Jedenfalls nicht für sich allein. An ihrer französischen Vertiefungsschule hat der Lehrer bis auf weiteres den Unterricht ausgesetzt. Und das nur, weil Omid, ein kurzsichtiger Schüler, den vom Lehrer an die Tafel geschriebenen Satz nicht vorzulesen vermochte. Der Lehrer sperrte zunächst die gesamte Klasse ein, obwohl Negin ihn ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass sie unmöglich alle in die kleine Kammer passen würden.
Er selbst, so erzählt es Regisseur Rankin, habe einen beträchtlichen Teil seiner Schulzeit in dem fensterlosen Kabuff mit den Unterrichtsmaterialien verbringen müssen, weil er unbedingt Komiker werden wollte und deshalb jeden Tag mit einem gewaltigen, angemalten Schnauzbart in die Schule kam.
In diesem frühen Konflikt steckt im Grunde schon das gesamte Konzept des späteren Künstlers, sein sturer Kampf für eine einmal aufgeploppte Idee. Und: je irrwitziger die Idee, um so größer die Opferbereitschaft. Nach »The Twentieth Century«, Rankins erstem größeren Filmprojekt, steckte er dermaßen tief in den Miesen, dass er ein Jahr lang Werbefilme für die kanadische Regierung drehen musste.
Als Rankin sich selbst nach den Motiven für sein neues Werk fragt, spricht er von einer »autobiographischen Halluzination«. Doch damit wissen wir noch nicht, warum in »Universal Language« fast ausnahmslos Farsi gesprochen wird. »Ich möchte die Leute ermutigen«, sagt der Regisseur, »den Film als kinematisches Venn-Diagramm zwischen Winnipeg, Teheran und Montreal zu betrachten.« – »Als was?« frage ich dazwischen. Doch weder Rankin noch Rankin beachten mich.
Die Sache klärt sich schnell auf. In meiner Schulzeit hießen die Dinger noch Mengendiagramme. Es geht also um Überlappungen. Im Fall von »Universal Language« nicht einmal so sehr um kulturelle, auch wenn Rankin für längere Zeit im Iran lebte, um dort bei den von ihm verehrten Regisseuren in die Lehre zu gehen, was allerdings nicht klappte. Geblieben sind die tiefen Bindungen an Land und Leute und die wehmütigen Erinnerungen an die Gastfreundschaft dieser Menschen. Und auch wenn »Universal Language« trotz seiner runden, durchweg schlüssigen Story in erster Linie eine absolut skurrile Komödie ist, schimmert doch immer wieder eine der größten Ängste der westlichen Zivilisation durch, unser aller Horrorvision: die endgültige Einsamkeit. Rankin bekennt: »Ich mache Kunst, weil ich mich nach einer Verbindung mit anderen sehne.« Der Witz bei der Sache: Sobald wir entweder diese Verbindung gefunden haben oder sie uns ganz unverhofft begegnet, wird uns schnell unwohl. So spüren wir im Film, ohne dass wir sein Gesicht sehen, sofort das Unbehagen des Protagonisten Matthew Rankin (Matthew Rankin) bei einer für unsere Verhältnisse etwas zu herzlichen Umarmung. Der Regisseur kratzt also keineswegs an der Erkenntnis, dass wir allein sind auf dieser Welt, er freut sich dennoch darüber, dass es Solidarität gibt, Zusammenhalt.
Die kleine Egin will das eingefrorene Geld loseisen, um davon für den kurzsichtigen Omid, ihren geliebten Banknachbarn, eine neue Brille zu kaufen. Also muss sie sich Werkzeug besorgen und lernt so beinahe alle Gewerbetreibenden und Händler der Stadt kennen, unter anderem den Inhaber der Truthahnmetzgerei, um mal den wichtigsten Geschäftsmann zu benennen. Als Egin am Ende ihrer kleinen Odyssee endlich den Eisenwarenladen gefunden hat und eine Axt verlangt, fragt die Verkäuferin: »Klein, groß oder normal?« Es ist die gleiche Frage, die Matthew Rankin gestellt wurde, als er in der Drogerie Schlaftabletten kaufen wollte.
Wofür hat er sich wohl entschieden?
»Universal Language«, Regie: Matthew Rankin, Kanada 2024, 89 Min., Kinostart: heute
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Merrick Morton/Deutsche Filminstitut Frankfurt17.06.2016
Regisseur seiner Klasse
Mehr aus: Feuilleton
-
Sumpfdotterblume im Frost
vom 23.01.2025 -
An der Theke sterben: Kneipen
vom 23.01.2025 -
Saubere Nägel
vom 23.01.2025 -
Nachschlag: Blutige Spiele
vom 23.01.2025 -
Vorschlag
vom 23.01.2025