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Aus: Ausgabe vom 04.02.2025, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Toxischer Stoff

Das Berliner Maxim-Gorki-Theater zeigt unter der Regie von Christian Weise eine süffig-burleske »Carmen«
Von Sabine Lueken
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Diese Figuren könnten aus einem Pop-up-Comic stammen

Carmen. Konstrukt misogyner Phantasien. In dieser Lesart hat Carmen den armen Don José zugrunde gerichtet und bekommt ihre gerechte Strafe. In einer der erfolgreichsten Opern aller Zeiten war alles drin, was bürgerliche Opernbesucher schockieren oder heimlich gruselig erregen konnte. Eine schöne Frau, eine »Zigeunerin« dazu, die sich die Männer nimmt, die sie will, eine Kriminelle, eine Arbeiterin. Diese Protagonistin mit unbändigem weiblichen Freiheitsdrang, stolz, wild und unangepasst, konnte aber auch als mögliches Idol für Feministinnen dienen. Georges Bizet, der Komponist dieser opéra-comique, starb 1875 im Jahr der Uraufführung mit 36 und erlebte ihren späteren Siegeszug nicht mehr. Zu gewagt der Stoff, zu kompliziert die Musik. Das Libretto stammt von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée (erschienen 1845).

Frauenfeindlichkeit, Femizid, rassistische Zuschreibungen, patriarchalisches Männerbild, Klassismus: Was macht das Gorki mit dem toxischen Stoff? Zunächst einmal folgt die Aufführung der Handlung der Oper erstaunlich genau, wie auch der Musik Bizets. Was man zuweilen nicht meinen sollte, so modern klingt sie mit Resonanzen von Latin, Calypso, Musical, Blues und Kurt Weill. Jens Dohle (musikalische Leitung) hat sie für ein kleines Ensemble traurig geschminkter Pierrots – bestehend aus ihm selbst (Tasten, Vibraphon, Schlagwerk), dem brillanten Akkordeonisten Dejan Jovanović und Steffen Illner (Bass, Cello, Flöten) – arrangiert.

Die Bühne (Julia Oschatz, Felix Remme) ist zuerst karg und weiß, streng symmetrisch mit einem großen Klappzylinder in der Mitte. Die kindlichen Comiczeichnungen, szenischen Anweisungen und Ortsbeschreibungen, die auf die weißen Flächen projiziert werden, verdichten sich genial im Laufe der fortschreitenden Handlung – von der Sonne mit Strahlen, Mond, Regen, rieselndem Schnee zu Berglandschaften und einem Zähne zeigenden Publikum in der Stierkampfarena. Die Figuren könnten, wie üblich bei Regisseur Christian Weise, aus einem Pop-up-Comic stammen. Die konsequente Farbgebung der skurrilen Kostüme (Lane Schäfer) verstärkt diesen Effekt: Die Militärs sind in seidiges Kanariengelb gekleidet, allen voran der tumb-freche Zuniga (Marc Brenner), die Zigarettenarbeiterinnen (Catherine Stoyan, Till Wonka) in Grellpink mit spitzen, schultütengroßen Brüsten, die Schmuggler in Dunkelblau. Die konservative Micaëla (Riah Knight, auch Text und Dramaturgie) mit den überdimensionierten blonden Zöpfen, die über den Boden schleifen, ist weiß gewandet, Carmen wiederum schwarz, wenn es auf den Tod zugeht.

Carmen, gespielt und toll gesungen von dem schwedischen Schauspieler Lindy Larsson, selbst Rom, tritt im erdbeereisfarbenen Flamencokleid auf die Bühne, als souveräne, überlegene Frau, jede Persiflage vermeidend, was man von den anderen Figuren nicht unbedingt behaupten kann. Via Jikeli spielt Don José als immer aufgeregteren Hänfling, wild grimassierend, Augenbrauen hochziehend, mit den Händen in den Hosentaschen wühlend. Sie reicht der baumlangen Carmen gerade mal bis zur Schulter, was mitunter für lustige Effekte sorgt. Die Männer kommen – wie auch bei Bizet – überhaupt nicht gut weg in diesem Spiel, und frau fragt sich, was sie überhaupt von ihnen wollen könnte.

Aber: »Die Liebe hat bunte Flügel.« Mitten in der berühmten Habanera fällt Carmen aus der Rolle, wendet sich ans Publikum, macht ihrer Überdrüssigkeit Luft: »I want to talk to you ...« Sie erzählt auf Englisch, dass sie es mit zunehmendem Alter nicht mehr erträgt, ihre eigene Legende zu sein, gleichzeitig sexistisches Konstrukt und Verfechterin freier Liebe. Neben diesem eher pädagogischen Monolog gibt es auch kleine, witzige Ergänzungen in den Dialogen, liebevolle Details und komische Elemente mit deutlichem Bezug zum Vaudeville, zum Jahrmarkttheater, zur derben Vorstadt-Volksbelustigung. Don Josés Mutter tritt Kuhglocken schwenkend im Dirndl auf, ihr Brief wird mit kreischend greisenhafter Stimme aus dem Off vorgelesen, die Militärs mimen das Reiten auf einem Pferd ohne Pferd. Effektvoll ist die riesige Maschine, mit der sich Carmen und die anderen Zigarettenfabrikarbeiterinnen Feuer geben lassen für die dicken Zigarren, die sie rauchen. Wie alle Figuren gegen den Strich gekämmt, ist Escamillo (Till Wonka), der Torero, ein weicher Typ mit Bauch und leiser Stimme.

Als Don José sich Carmens Liebe versichern will, kommt der zweite Ausstieg: »It doesn’t work … Wir haben das so oft versucht.« Und kurz vor dem bereits von den Karten geweissagten Tod: »... ich bin müde ... diese Rolle zu spielen, ... dieses Konstrukt meiner Väter, meiner französischen imperialen Daddys. Heute Nacht will ich wirklich sterben. Für immer.« Nach zwei Stunden hat sich allerdings auch bei der Zuschauerin eine gewisse Müdigkeit eingestellt. Am Schluss steht Carmen wieder auf und fordert das Publikum auf mitzusingen: »Auf in den Kampf, tarram tatam tatam!«

Nächste Vorstellungen: 11., 12. und 25.2.

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