Im Hinterhalt
Von Gerd SchumannFrüher, in vergangenen Jahrhunderten, beginnt Peter Handke sein neues Stück, »wurden Leute, denen man das Recht absprach, sich in den Wohnräumen zu beklagen, in die Küche geschickt: Erzählt dort eure Geschichte!« Und der Nobelpreisträger von 2019 tut dies, schreibt in diesem 74 Seiten langen Monolog die Beobachtungen seines Protagonisten auf, notiert jedes Detail und formuliert in einer Art kontroversem Zwiegespräch mit sich selbst seine Zweifel an den eigenen Überlegungen dazu. Das geschieht nahezu handlungslos, ein Drama ohne Dramaturgie, ohne Rednerwechsel, anders als in seinen anderen Bühnentexten der jüngeren Zeit.
In »Spuren der Verirrten« von 2007 horchte Handke zurück in jene glücklichen Tage, als der Hase tatsächlich lief, wenn man rief: »Hase lauf!« und assoziierte gesellschaftliche Aufbrüche. In sie war er selbst maßgeblich involviert, etwa seine Attacken auf verkrustete Strukturen mit der avantgardistischen »Publikumsbeschimpfung« (1966), die die Theaterwelt veränderte. Die Zeiten waren so, die Zeichen für Veränderung standen günstig, und wer sich bewegte, mischte auf. »Immer noch Sturm« dann schilderte 2011 auf der Basis von Handkes eigener Familienbiographie mütterlicherseits den slowenisch-österreichischen Partisanenwiderstand gegen die Nazis, eine tiefe, erhellende Geschichtengeschichte. 2020 ließ »Zdeněk Adamek« mehrere Personen über einen verzweifelten jungen Mann eindringlich reflektieren, der sich 2003 am Prager Wenzelsplatz aus Protest gegen eine Welt, in der »nicht die Menschen entscheiden, sondern Geld und Macht«, mit Benzin übergießt und bei lebendigem Leib verbrennt.
Der Ich-Erzähler in »Schnee von gestern. Schnee von morgen« dagegen ist ein Wanderer mit offenen Augen und Sinnen. Er nimmt sich sein jeweiliges Tageshoroskop (nicht zu vergessen: eine Entlehnung aus »hōroskopḗīon«, dem »Stundenanzeiger«). Buchstäblich als Beobachter der Stunde geht er durch Zeiträume, folgt den täglich wechselnden Weisheiten und bemüht sich, »das, was wahrhaft zählt, im Gedächtnis zu behalten«.
Es entstehen jeweils nur ein oder zwei Seiten lange Darstellungen zufälliger, aber sehr bewusst wahrgenommener Geschehnisse am Rande des Weges, fernab der Großereignisse, die sonst vielfältig plappernd das alltägliche Sein verdecken. Der »Kreuz- und Quer- und Querfeldeingeher« sieht und hinterfragt alles Gesehene, zieht seine Schlüsse, um sie im nächsten Moment wieder in Frage zu stellen in einem Text, der »keinen einzigen schwachen, überzähligen Satz enthält und beglückenderweise nichts mit dem poetisch Armseligen zu tun hat, was sonst oft unter literarischer Prosa firmiert«, wie Die Presse aus Wien meint.
Handke ist ein Virtuose der Sprache und der Reflexion, des Spiels mit beiden; ein Dichter, der die Möglichkeiten auslotet, sich auszudrücken, in fein formulierten Bildern und vermeintlichen Wahrheiten, die im nächsten Moment schon wieder angezweifelt werden. Er ist kein durch die Gegend Irrender, sondern ein nach Wahrheit Suchender, geduldig jede Nuance wahrnehmend, zugleich immer unruhig. Sich auf einen solchen Text einzulassen, mag mühsam sein, führt aber an keiner Stelle zur Ermüdung und bildet einen Gegenpol zu den vorgefertigten Meinungen, die allüberall zur konformen, schablonenartigen Einordnung verbreitet werden.
So kann allein das Lesen des Handke-Stücks zum subversiven Akt werden, und wird es erst recht, weil es möglicherweise unerwünscht ist. Noch heute – wie aktuell in der Anmoderation einer Rezension des »Schnee«-Textes im Deutschlandfunk (23.1.2025) – werden Handkes Jugoslawien-Erkundungen von vor drei Jahrzehnten, die Reisen zu den Flüssen Donau, Sava, Morawa und Drina, als der erste NATO-Krieg Richtung Osten bevorstand, eine »seiner politischen Verirrungen« genannt und wird unbeirrt von der Faktenlage das gefälschte Geschichtsbild der Verteidigung von Menschenrechten reproduziert, eine in die Jahre gekommene Dauerschleife der Verdummung.
»Es wird schon. Oder auch nicht? Nicht mehr? Nie mehr? Oder doch?« Zweifel sind angebracht. Es ist nicht immer so, wie es scheint. Gerade vermutete sich der Ich-Erzähler in einem nicht zu entkommenden Hinterhalt, »auf einmal, völlig lautlos, landeten zwei Raben zu meinen Füßen, die beiden Köpfe still zueinander, anstelle des Doppeladlers ein Doppelrabe«. Statt Hinterhalt ein Doppelrabe, »oder doch weiterhin Hinterhalt, freilich in anderem Sinn, Halt hinter – Hinten-Halt, freundliches, äh wie, freundlicher! Hinterhalt und Spielfeld. Ich, Grenzlandbegeher als Sportler.« Mag die Lage noch so aussichtslos sein, sie ist es nicht. Der Protagonist weiß um seine schöne episodische kleine Rolle, »eine sogar gemeinnützige«. Er und wir kennen sie, an den Rand gedrängt und doch Einfluss nehmend. »Wir Barfüßer, wir barfüßigen Könige, ihr barfüßigen Komtessen.« Es klingt optimistisch. »Es gibt keine andere Lösung als – ja, als was? – Weiß nicht, zum Glück.« »Zum Glück« bedeutet weitersuchen, vielleicht etwas wie das Schreiben von Peter Weiss, dem er seinen Text widmet.
Der Ich-Erzähler trägt zusammen, was ihm begegnet. »Destillieren Sie einen Hauch Phantasie aus Ihrem Tun«, sagt sein Horoskop. Das macht er ausdauernd, und natürlich wird er mit der einen oder anderen offenen oder auch gesetzten Meinung bei denjenigen, die seinen Überlegungen folgen, auf Widerspruch stoßen, so dass hier und da ein dialektischer Disput zwischen Autor und Betrachter entsteht.
Eines Tages allerdings verschwindet er im Wald. Oder sitzt er »als letzter Fahrgast hinten zusammengekauert im allerletzten Nachtbus«? Jedenfalls beendet er seine Beobachtungen, und Der Spiegel wertet Handkes Text schon als zärtlichen »Nachruf« auf einen ewigen Spaziergänger, »vielleicht sogar auf sich selbst …«. Eine Täuschung: Der Chronist, der den gestrigen-morgigen Schnee aufgeschrieben hat, notiert zum Schluss, dass der Abgetauchte beobachtet worden sei beim »Barfußgehen«. Oder war es am Wochenmarkt, am Arm eine Schönheit, »die beiden schäkernd wie in alten Zeiten«?
»There will be no answer, let it be …« Keine Antwort ist die Antwort, Paul McCartney. Eines zumindest steht für den Ich-Erzähler des Nichtgeschehens fest – »Gastwirtschaft und Gastfreundschaft, (sind) mein erstes und letztes mir verbliebenes Gesellschaftsideal«. Geblieben oder übriggeblieben? »Letztes? Ja, aber dafür unzerstörbares, so sehe ich es, so gewiss bin ich, nicht nur in meinen Augen.«
Peter Handke: Schnee von gestern. Schnee von morgen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 74 Seiten, 20 Euro
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