Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Anthropause

Von Helmut Höge
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Dieser inzwischen schon fast globale Rechtsruck, der vielleicht mit der unseligen »Wiedervereinigung« einsetzte und die linke Bewegung endgültig ins Abseits drängte, hat mich bewogen, eine Anthropause einzulegen. Die Anthropause ist für mich nichts Neues. Ich hatte sie schon einmal eingelegt – als die Bremer Schülerbewegung verebbte und verschiedene Wirtschaftsbetriebe, in denen ich gearbeitet hatte, mir nur »Bullshit Jobs« gewährten. Weshalb ich dann als Hilfspfleger im Bremer Tierpark arbeitete, der einem indischen Großtierhändler gehörte. Dort war ich unter anderem für zwölf indische Flughunde verantwortlich. Sie waren mir die liebsten Tiere, die ich zu versorgen hatte, obwohl ich jeden Tag einen ganzen Eimer Obstsalat für sie zubereiten musste. Und nicht nur für sie. Aber die Flughunde erwiesen sich als äußerst dankbare Abnehmer. Obwohl Früchte- und Nektarfresser, hatten sie spitze Zähne, ihr Gesicht war eher fuchs- als hundeartig, jedoch feiner und kleiner. Sie sahen überhaupt schön aus, rotbraun mit dunklen großen Flügeln, an denen sich jeweils ein hakenähnlicher Daumen befand, mit dem sie wild herumfuchtelten, um sich möglichst schnell vorwärtszuhangeln und in den Fruchtsalat zu stürzen.

Ich war damals noch davon entfernt, die Flughunde in der Perspektive einer »Ökologie ohne Natur« wahrzunehmen, wie der Philosoph Timothy Morton das nennt. Er meint damit, dass eine wahre Ökologie die Trennung zwischen Kultur und Natur aufgelöst hat. Die japanische Anthropologin Chihiro Hamano ist dem im Rahmen einer Feldforschung in Deutschland über Mensch-Tier-Verbindungen nachgegangen. Ihr Bericht darüber heißt »Saint Zoo« (2022). Sie geht davon aus, »dass sich die Persönlichkeit von Tieren innerhalb der Beziehung zu ihnen entwickelt«. Am Ende schreibt sie: »Sich im Entdecken von Persönlichkeit zu üben ist eine Form von ›Liebe‹, wie ich nun erfahren habe.« Dabei ist sie zu ähnlichen Schlüssen gekommen wie der niederländische Biologe Midas Dekkers. In seinem Buch »Geliebtes Tier« (1994) heißt es über den Unterschied zwischen Tierschutz und Naturschutz: »Die erste Voraussetzung für eine Beziehung besteht darin, dass man den anderen als Individuum betrachtet. Bei Naturschützern ist das nicht der Fall. Die lieben einen Regenpfeifer als Repräsentanten aller Regenpfeifer und sagen: ›In dieser Gegend kommt der Regenpfeifer vor.‹ Um ein Tier liebzuhaben, muss man es als Individuum ansehen. Dann erst tritt eine persönliche Beziehung an die Stelle einer versachlichten. Eine ganze Tierart kann man nicht liebhaben, das einzelne Tier aber sehr wohl.« Im Idealfall entsteht daraus ein »Ich-Du«-Verhältnis im Sinne des Philosophen Martin Buber.

In meiner Familie war das bei einem Hund, einer Katze und einem Sperling der Fall. Im Bremer Tierpark war ein Pfleger bei den Hornträgern, ein ehemaliger Bauer, der keinen Feierabend kannte und zum Beispiel Tage vor der Geburt im Stall einer Antilope schlief, um ihr notfalls sofort helfen zu können. Soweit ich das beurteilen konnte, fanden die hochträchtigen Antilopen das auch tatsächlich hilfreich. Wie so viele Tierliebhaber hatte er mit Menschen nicht mehr viel im Sinn. Weil ich mich im Rahmen eines kleinen Arbeitskreises seit 1999 vor allem mit Biologie beschäftige, lag es nahe, erneut eine Anthropause einzulegen, auch wenn ich mich jetzt praktisch bloß um zwei Katzen kümmere. Mit Jaroslav Hašek könnte ich trotzdem sagen: »Ich habe die Seite gewechselt und bin jetzt bei den Tieren.«

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