Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 07.02.2025, Seite 11 / Feuilleton
Qual der Wahl

Im Briefwahllokal – Es hinter sich bringen

Von Pierre Deason-Tomory
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Es tut so so weh …

Ich dachte, es würde noch kaum einer da sein am Montag, dem ersten Briefwahltag in Weimar, aber als ich die schwere Türe aufdrücke zum Ratssaal, schiebt sie das hintere Ende einer längeren Menschenschlange auf die Seite. Ich stelle mich an.

An fünf Schaltern sitzen Verwaltungskollegen, begrüßen den Bürger, zetteln, tippen, piepsen, haken ab, weisen zu den Wahlkabinen. Die Schlange wird länger und zerfasert, bildet mehrere Enden. Die Leute, obwohl altersgemäß warteschlangensozialisiert, sind zu doof, ordentlich anzustehen. »Bitte unterschreiben Sie die Wahlscheinanträge, bevor Sie zu uns kommen, dann geht es schneller!«, ruft eine Wahlamtsmitarbeiterin zu den Wartenden. Zwei leihen sich von mir einen Kugelschreiber und unterschreiben auf dem Oberschenkel.

Dann ein kleiner Tumult, eine rasant frisierte Frau übergeht die Reihenfolge. Ein Bürger mit Schnauzbart interveniert, wird von den Kollegen zurückgeschickt. Was sollen die sonst machen, können ja nicht auch noch achtgeben, wer als nächstes dran ist und wer sich vordrängelt. Was ist passiert, dass es in Deutschland bewaffnete Aufpasser braucht, damit man ohne Blutvergießen seine Stimme abgeben kann? Wenn sich die Leute schäbig verhalten bei der Wahl, wie täglich im Job, im Auto, im Bus, beim Bäcker, nimmt es nicht wunder, dass sie auch Drecksäcke wählen, die an den inneren Schweinehund appellieren.

In der Wahlkabine öffne ich mein Päckchen und schaue auf den Stimmzettel. Listenplatz eins hat die AfD. Sieht unwirklich aus. Wie kommt das? Stimmt, die Faschisten stehen ganz oben auf der Liste, weil sie bei der letzten Bundestagswahl in Thüringen die meisten Stimmen bekommen hatten. Bei der Landtagswahl voriges Jahr waren es sogar 34 Prozent, ein Drittel der Stimmen. Faschisten. Ganz oben. Der Stimmzettel sieht aus wie 1932. Ich sitze 2025 in Weimar in der Wahlkabine, und es sieht aus wie Weimar 1932.

Ich weiß, was ich zu tun habe, aber ich will nicht. Sitze blöde da mit dem Stift in der Hand und zögere. Ich sollte mit der Erststimme Bodo Ramelow wählen, damit das Kalkül der Linkspartei aufgeht: Gysi, Bartsch und Ramelow gewinnen drei Direktmandate und die Partei kommt in voller Stärke in den Bundestag. Mission Silberlocke. Der Ruin wäre abgewendet.

Am Samstag abend habe ich am Tresen gestöhnt: »Ramelow wählen? Im Leben nicht.« Den eitlen Schwätzer, der faselt von Gott, Wehrpflicht und Waffenlieferungen. Der in der Pandemie eine Topübersterblichkeit in Kauf nahm aus Feigheit vor dem Pöbel und Angst um seine Popularität. Trotzdem wählte nach zehn Jahren Ramelow I. ein Drittel der Thüringer Faschisten. Dem meine Stimme geben? Im Leben nicht.

Leider reicht die Zeit heute nicht für ein Leben, die in der Schlange wollen auch noch drankommen, also mache ich die zwei Kreuze, eins links, eins rechts daneben, Ramelow und Linke. Es braucht eine deutschlandweite linke Partei, wenn »das Volk« sich anschickt zu herrschen. Gerade dann sind stabile Strukturen existentiell, Kontakte, Büros, Rechtsanwälte. Es ist 1932. Diese eine linke Partei, die solche Strukturen vorhalten kann, hat fürchterlich versagt. Aber sie ist die einzige, die wir haben. Um zu überleben, braucht sie so viele Zweitstimmen wie möglich und drei Direktmandate. Was soll man machen.

Ansonsten hätte ich nichts dagegen, wenn Ramelow damit anfangen würde, einfach mal die Fresse zu halten.

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