Früher war mehr Dreck
Von Michael Merz
Ohne großes Aufsehen soll sie über die Bühne gehen, die aktuelle Tour eines der größten Rockstars der Post-Grunge-Zeit: in kleinen Hallen, nur zwei Termine hierzulande – München und Berlin – und unter Ausschluss medialer Begleitung. Er wird seine Gründe dafür haben, die Wiederkehr des Marilyn Manson nach vielen Jahren derart zu verstecken. Konnte ja keiner voraussehen, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Los Angeles gegen Brian Warner, den Menschen hinter der Kunstfigur, aufgrund von Gewalt- und Misshandlungsvorwürfen früherer Partnerinnen im Januar eingestellt wurden. Sein neues Album jedenfalls verkauft sich prächtig, und wenn es nach den Schwarzmarktpreisen geht, hätte er locker große Arenen füllen können.
Im Gegensatz zu Alice Cooper und Ozzy Osbourne, den Schockrockern fürs Kinderzimmer, war Manson stets ein echter Spießbürgerschreck. Das gipfelte unter anderem im Vorwurf christlicher Fundis, er trage am Columbine-Massaker Mitschuld – was seiner Karriere nur förderlich war. Taugt er noch als Antipol zu US-amerikanischer Bigotterie? Er könnte. Doch als Trump-Vize Vance am Freitag in München God’s Own Country als Hort der Meinungsfreiheit pries, da hatte er einen Tag zuvor ein paar Kilometer weiter auf der Bühne im Zenith gestanden – und die absurde Situation nicht genutzt, aufzuzeigen, woher die wahre Cancel Culture rührt.
Fit wie nie zuvor, der Mittfünfziger soll mittlerweile den harten Drogen abgeschworen haben, zeigte Manson dann am Sonntag in der Berliner Columbiahalle, was er auf dem Kasten hat. Mehr denn je, so dass der Rockernachwuchs, der ihn noch nie live gesehen hat, völlig aus dem Häuschen gerät und sogar vergisst, die Social-Media-Kanäle zu füttern. Die Bühne – spartanisch in LED-Effekte getaucht, die Band – furztrocken, tight und derb, und Mansons Stimme, fast schon übermäßig sauber. Und mit ein wenig zu viel Selbstmitleid: »They tried to take me away from you and they fucking failed«, heizt er vor »Disposable Teens« ein. Wäre nicht nötig gewesen, die Songs sind mitreißend genug. Viel Neues ist dabei aus »One Assassination Under God – Chapter 1«. Die formidablen Klassiker hauen aber immer noch am meisten vom Hocker. Alle tanzen sie zu »Dope Show«, flippen aus zu »Sweet Dreams« und »Coma White« ist der ersehnte Rausschmeißer. So befreit der Karriereasche entstiegen, das schreit nach mehr. Zumal es mit Marilyn Manson einen Antipol in der reaktionären Trump-Zeit dringend braucht. Mal sehen, wann Chapter zwo folgt.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Ewiges Manhattan
vom 18.02.2025 -
Entbehrlich im Weltall
vom 18.02.2025 -
Nachschlag: Peinliche Erinnerung
vom 18.02.2025 -
Vorschlag
vom 18.02.2025 -
Lamarckismus
vom 18.02.2025 -
Würg
vom 18.02.2025 -
Präparierte Zigarren
vom 18.02.2025