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Lamarckismus

Von Helmut Höge
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Hier geht es um einen tragischen Helden: den Biologen Paul Kammerer, der den Lamarckis­mus gegen den Darwinismus stark machen wollte. Von 1902 bis 1926 experimentierte er in der biologischen Versuchsanstalt Vivarium im Wiener Prater mit Amphibien, um den Nachweis zu führen, dass sich Erfahrungen vererben können. Er scheiterte: Ein Prüfer des Zentralorgans der Darwinisten, Nature, wies nach, dass sein Präparat einer Geburtshelferkröte, die den Einfluss einer veränderten Umweltbedingung auf den Organismus beweisen sollte, verfälscht worden war.

Unbeeindruckt von diesem Wissenschaftsskandal bot die Sowjetunion Kammerer ein eigenes Institut in Moskau an. Der international gefeierte, durch den Fälschungsvorwurf jedoch entehrte Amphibienforscher zog es aber vor, sich im Wiener Wald zu erschießen. Der sowjetische Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski, und dessen Frau drehten daraufhin 1928 mit Geldern aus der deutschen Arbeiterbewegung einen Spielfilm über Kammerer: »Salamandra« – in dem der linke Lamarckist von rechten Darwinisten und Jesuiten in den Suizid getrieben, jedoch im letzten Moment von Lunatscharski persönlich gerettet und in die Sowjetunion gebracht wird, wo er frei forschen kann und dafür vom Staat alle Unterstützung bekommt. Der Film wurde in Deutschland verboten.

2017 veröffentlichte der Wiener Soziologe Klaus Taschwer eine Geschichte der biologischen Versuchsanstalt Vivarium, die – von jüdischen Wissenschaftlern initiiert und finanziert – mit dem Einzug der Nazis in Österreich für immer abgewickelt worden war: »Experimentalbiologie im Wiener Prater«. Der Gründer und Leiter, Hans Leo Przibram, starb in Theresienstadt, seine Frau beging Selbstmord.

Bereits 1971 versuchte der Schriftsteller Arthur Koestler Kammerer als Wissenschaftler mit einer Biographie, »Der Krötenküsser«, zu rehabilitieren. 2010 wurde sein Buch wieder neu aufgelegt. Im Nachwort schreiben die Herausgeber: »Kammerer ist eine Art Gegenheld zur etablierten Wissenschaft.«

2019 hat der einst am Münchner Institut für experimentelle Chirurgie forschende Arzt und Schriftsteller Michael Lichtwarck-Aschoff sich in seinem Roman »Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist« erneut den »Fall Kammerer« vorgenommen. Der Autor erzählt darin die Geschichte des Wiener Vivariums aus der Sicht einiger dort beschäftigter Hilfstierpfleger, die vom Land kommen, in ihrer Dorfsprache – dem »Steinbüchlton« und zugleich im »Vivariumton«. Sie bringen ihr eigenes lamarckistisches Anliegen mit in die Versuchsanstalt: Sie wollen Kühe ohne Hörner, die diese doch domestiziert nicht mehr brauchen. Wenn die Menschen gut zu ihnen sind, unter anderem mit ihnen zusagender Musik, bilden sich ihre Hörner in einer freundlichen Umwelt vielleicht zurück – und sie vererben dann sogar ihre »Hornlosigkeit«. Tatsächlich wird auf diese Weise ein Kalb ohne Hörner geboren und schon bald ist Steinbüchl das »Dorf der Hornlosen«.

Boris Kusin lernte Ossip Mandelstam in Armenien kennen, wo der Biologe auf der Suche nach einer Art Cochenille­schildlaus war, aus der man den roten Farbstoff Karmin gewinnt, den die Sowjet­union nicht länger aus dem Westen importieren wollte. Es gab sie dort auch, aber die armenische Laus lieferte zu wenig Farbstoff. Immerhin begeisterte Kusin Mandelstam für die Biologie. Zurück in Moskau gründeten sie dazu einen kleinen Arbeitskreis. Mandelstam wurde 1938 nach Wladiwostok deportiert und starb unterwegs, während man Kusin nach Kasachstan verbannte. Von dort holte ihn 1956 der Polarforscher Iwan Papanin, nachdem er als Leiter der Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg in Rente gegangen und Reorganisator der lamarckistischen Forschungsstation »Borok« an der künstlichen Wolgainsel »Darwin« geworden war. Kusin wurde sein wissenschaftlicher Leiter dort. »Borok« war ein Gutshof gewesen, den Sawwa Morosow geerbt hatte, der jedoch als Bolschewik ins Ausland flüchtete und erst mit der siegreichen Revolution zurückkehrte und den Gutshof zurückbekam, den er dann der Wissenschaft übereignete. Papanin machte daraus die größte limnologische Forschungsstation der Welt – sie existiert noch heute.

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