Krieg bleibt Drahtseilakt
Von Reinhard Lauterbach
In den ersten drei Jahren des Ukraine-Kriegs und der deshalb verhängten Sanktionen des Westens hat sich die russische Volkswirtschaft besser gehalten, als die Gegner Moskaus erwartet hatten. Wachstumsraten von um die vier Prozent sind Werte, von denen Länder wie die Bundesrepublik weit entfernt sind. Jetzt aber warnen internationale und russische Volkswirte davor, dass dieser Boom bald zu Ende gehen dürfte. Warum eigentlich? Auf den ersten Blick wirkte die Auflösung finanzieller Reserven, die die russische Regierung seit Jahrzehnten für »schlechte Zeiten« angelegt hatte – die sie vermutlich auch vorausgesehen hat – wie ein riesiges Konjunkturprogramm. Zugegeben, eine einmalige Geldspritze, aber immerhin: Wenn der »Nationale Wohlstandsfonds« vor dem Krieg ein Volumen von ungefähr 600 Milliarden US-Dollar hatte und von diesem Geld inzwischen angeblich 60 Prozent ausgegeben sind, dann bedeutet dies, dass geschätzte 360 Milliarden investiert worden sind.
Natürlich geht viel Geld in erster Linie in die Ankurbelung der russischen Rüstungsindustrie, die sehr zum Ärger von EU und NATO aktuell in drei Monaten mehr produziert als die westlichen Staaten innerhalb eines Jahres. Auch Panzer und Kanonen steigern zunächst einmal das Bruttoinlandsprodukt, weil für sie bezahlt wird, Rüstungsbetriebe Gewinne machen und Steuern zahlen. Außerdem haben die westlichen Sanktionen auf vielen Gebieten zu einer Importsubstitution geführt – es hat sich bei vielen Gütern plötzlich wieder gelohnt, Dinge in Russland zu produzieren, die vorher bequem mit Petrodollars importiert werden konnten. So hat nach einer Aufstellung der österreichischen Raiffeisenbank der russische Fahrzeugbau seit 2023 seinen Absatz um 50 Prozent gesteigert – freilich von einer niedrigen Grundlage aus. Andere Beispiele für die erfolgreiche Belebung der Binnenwirtschaft sind der Weinbau – plus 30 Prozent – und zum Beispiel die Molkereiwirtschaft. Es gibt inzwischen russischen Ersatz für die meisten Käsespezialitäten, die vor dem Krieg aus Westeuropa gekommen waren.
Ein wichtiger Aspekt für die erfolgreiche erste Phase des russischen Kriegskeynesianismus ist der regionalpolitische. Die staatlichen Rüstungsprogramme kamen überdurchschnittlich stark Betrieben zugute, die sich in der tiefen Provinz seit dem Ende der Sowjetunion mehr schlecht als recht über Wasser gehalten hatten – deren Insolvenz aber von der Regierung offenbar auch in Vorahnung von Zeiten wie den heutigen nicht zugelassen wurde. Sie konnten jetzt kurzfristig ihre Produktion wieder hochfahren. Eine soziale Nebenfolge ist, dass in abgehängte Regionen plötzlich Geld floss und dort Arbeitsplätze entstanden. Eine schon vor längerer Zeit vorgenommene Auswertung der Statistik der Zuteilung staatlicher Wohnungsbauprämien hat gezeigt, dass der stärkste Zuwachs der Wohnungskäufe genau in jenen strukturschwachen Regionen stattgefunden hat.
Die Kehrseite ist, dass die vor dem Krieg boomende Wohnungsbranche in Moskau, St. Petersburg und anderen Metropolregionen jetzt kleinere Brötchen backen muss. Während vor dem Krieg der Staat mit vergünstigten Hypothekarkrediten in erster Linie Leuten in den Metropolregionen, die sich den Wohnungskauf im Prinzip auch so hätten leisten können, die Grenzen ihrer eigentlichen Zahlungsfähigkeit erweitert hatte, verteilen sich diese Subventionen jetzt großflächiger. So dass weniger in Moskau bleibt. Man kann es auch positiv formulieren: Aus einer staatlich geförderten Immobilienblase entweicht langsam die Luft. Ob das außer für Makler und Immobilienentwickler schlimm ist, muss sich noch zeigen.
Damit allerdings hängt eine zweite Konsequenz zusammen, die langsam auf den zivilen Sektor der russischen Wirtschaft drückt: die hohen Zinsen. Sie liegen nominal bei 21 Prozent, nach Abzug der etwa zehnprozentigen Inflation also real immer noch bei zehn Prozent. So hoch sind sie sonst nirgends auf der Welt, und so beklagt die zivile Wirtschaft, dass ihre Investitionen praktisch zum Stillstand gekommen seien. Zumal, und auch das ist eine Folge des Krieges, Arbeitskräfte knapp geworden, die Löhne und Gehälter der Beschäftigten auch real gestiegen sind. Dass das Volkswirten, die sich in ihren Analysen an den Interessen des Kapitals orientieren, nicht passt, muss niemanden wundern. Auch hoher Sold und erhebliche Prämien für Männer, die sich zum Militär melden, tragen dazu bei, dass sich das Lohnniveau einstweilen hält – auch wenn die Leute natürlich über die hohen Preise schimpfen.
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Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (21. Februar 2025 um 10:00 Uhr)Natürlich ist der Krieg immer ein Drahtseilakt, denn er verschiebt die volkswirtschaftlichen Proportionen massiv in eine ungute Richtung. Reinhard Lauterbach hat recht, wenn er schreibt, dass Panzer und Kanonen das Bruttoinlandsprodukt steigern. Allerdings spricht das auch Bände darüber, was diese Kennziffer über das tatsächliche Leistungsvermögen einer Volkswirtschaft aussagt. Denn Rüstungsproduktion ist eben nicht Mehrung, sondern unproduktive Verschleuderung gesellschaftlichen Reichtums. Selbst wenn ein Land seine wirtschaftliche Leistungskraft komplett in Produkte stecken würde, die auf diese Weise pure Vergeudung von Arbeit sind, würde das Bruttoinlandsprodukt stabil bleiben oder steigen. Obwohl ringsum alles vor Mangel und Armut vor die Hunde gehen würde. So »produktiv« ist sie eben, die Rüstungsindustrie. Und natürlich auch die Statistik, die aus Verlusten Gewinne zaubert.
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