Opfer verurteilt
Von Martin Weiser, Seoul
1964 biss die damals 18jährige Choi Mal Ja 1,5 Zentimeter der Zunge ihres Angreifers ab: Sie wehrte sich damit gegen den 21jährigen Mann, der sie in der Nähe ihres Hauses vergewaltigen wollte. Verurteilt wurde jedoch nicht der Täter, sondern Choi zu zwei Jahren auf Bewährung für schwere Körperverletzung nach mehr als sechs Monaten Untersuchungshaft. Der Täter wurde zwar auch zu einer sechsmonatigen Haftstrafe, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt – allerdings lediglich wegen Hausfriedensbruchs und Erpressung.
Erst vergangene Woche machte nun das Gericht in Busan den Weg für eine Neuverhandlung frei. Allerdings nur, weil der Oberste Gerichtshof das im Dezember angeordnet hatte, da er die Aussagen Chois als »spezifisch und konsistent« einordnete und keine »unnatürlichen oder weit hergeholten« Motive für den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens sah. Bereits im Mai 2020 hatte Choi gefordert, dass ihr Fall neu aufgerollt wird, aber erst in der letzten Instanz wurde ihr zugesprochen, dass damals etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Heute ist sie 78 Jahre alt. Der Grund für die Revision war aber nicht das absurde Urteil, das Opfer der Vergewaltigung für Notwehr zu verurteilen, sondern dass man sie anscheinend monatelang ohne richterlichen Beschluss eingesperrt hatte.
Und so wirft der Fall noch einmal ein Schlaglicht auf die Verbreitung sexualisierter Gewalt gegen Frauen in Südkorea. Nach den jüngsten Angaben des Portals Statista stieg die Zahl der gemeldeten Fälle allein im Zeitraum 2021 bis 2022 um 26,4 Prozent. In den vergangenen 15 Jahren schafften es mehrere Fälle wie der von Choi auch immer wieder in die Medien. Es zeichnet sich zwar die Tendenz ab, den Angegriffenen im Notfall auch Selbstverteidigung zuzugestehen, gerade wenn die Täter alt und die Opfer jung sind. Aber noch 2017 verurteilte ein Gericht in Incheon eine 50jährige Frau zu sechs Monaten Gefängnis mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe, die sich wie Choi mit einem Biss in die Zunge ihres Angreifers gegen den sexuellen Übergriff gewehrt hatte. In der Begründung hieß es laut Yonhap News unter anderem, die Beteiligten hätten sich nicht gütlich einigen können, sprich: Der Täter wollte seinem Opfer nicht vergeben oder verlangte mehr Geld, als die Betroffene bereit war zu geben oder geben konnte. Als »mildernder« Umstand wurde demnach berücksichtigt, dass die Frau sich um minderjährige Kinder zu kümmern habe.
Welche Folgen solche Urteile haben, schilderte Choi Mal Ja 2020 der Zeitung Hankyoreh. Für die damals 18jährige brach die Welt zusammen, und ihr Vater drohte, sie umzubringen für die Schande, die sie seiner Familie gebracht habe. Der Täter zog mit einem Dutzend Freunden vor ihr Haus und drohte ihr ebenfalls mit dem Tod, weil sie ihn zu einem Krüppel gemacht habe. Ihr Vater zahlte dem Täter schließlich Schmerzensgeld. Choi traute sich monatelang nicht mehr aus dem Haus und zog schließlich weit weg, um der Diskriminierung durch die Nachbarn zu entgehen. Die Staatsanwaltschaft unterstellte ihr, den Täter mit Vorsatz verstümmelt zu haben, und setzte sie unter Druck, ihn doch einfach zu heiraten. Damit wäre doch alles gelöst, war das Argument.
Dass Choi Mal Ja überhaupt auf die Idee kam, ihren Fall neu aufrollen zu lassen, verdankte sie einem späten Entschluss, mit 60 Jahren ihre Schulbildung nachzuholen und danach zu studieren. Nach einer Vorlesung mit dem Titel »Sex, Liebe, Gender« schrieb sie ihre Geschichte auf, und nach dem Abschluss des Studiums im Jahr 2019 wurde sie an die NGO Korea Women’s Hotline vermittelt. Ein Jahr später reichte sie beim Gericht in Busan ihren Antrag ein. Dabei ist der Fall bereits seit langem landesweit bekannt. Schon im Mai 1964 hatten Lokalzeitungen darüber berichtet, einschließlich reißerischer Überschriften. 1995 erwähnte man ihre Verurteilung auch in einer staatlichen Publikation, die 100 Jahre Gerichtswesen feiern sollte. Doch ob die Neuverhandlung in einem Freispruch endet, ist noch vollkommen offen.
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