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Aus: Ausgabe vom 22.02.2025, Seite 10 / Feuilleton
Radikale Politikwissenschaft

Wahlzettel statt Gewehrkugeln

»Transformation der Demokratie« ist eigentlich immer. Vor 100 Jahren wurde Johannes Agnoli geboren
Von Daniel Bratanovic
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Empfiehlt das organisierte Nein gegen »staatsbürgerlich-parlamentarische Gleichschaltung«: Johannes Agnoli

Angesichts des gottlob zu Ende gegangenen Wahlkampfelends und zwecks Beförderung von Wahlfrust hier, frei Haus geliefert, nicht im geringsten gealterte Powersätze: »Die politische Partei des Verfassungsstaates (…) wirkt in letzter Instanz als Klassenorgan der Konservation, weil sie keine Klassen mehr zu erkennen vorgibt, sondern nur noch ›Menschen‹, keine gesellschaftlich bezogene Idee, sondern nur ›Sachen‹.« »Die Leerformelhaftigkeit der konkurrierenden Parteien erinnert (…) an den Schein der Konkurrenz im Konsumsektor (…).« Den Wählern wird »lediglich die Illusion eines offenen Wettbewerbs (…) geboten. In Wirklichkeit wird das politische wie das konsumierende Publikum mit scheinunterschiedlichen Gütern beliefert«. Die Parteien »bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei – plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung«.

Die Sätze haben 60 Lenze auf dem Bu­ckel, ihr Verfasser wurde vor 100 Jahren geboren. Die kleine Schrift, die sie enthält, trägt den Titel »Die Transformation der Demokratie« und machte Johannes Agnoli, der sie geschrieben hat, bald einem Publikum bekannt, das theoretisches Material benötigte, um in der Bundesrepublik Ende der 60er Jahre die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse aufzumischen. Die Abhandlung, ursprünglich unter dem Titel »Verfassung und Herrschaft« zur Veröffentlichung bestimmt, galt rasch als »Bibel der APO«, also als heilige Schrift einer im wesentlichen studentischen außerparlamentarischen Opposition, die in ihrem Eifer eine gehörige Portion politischer Romantik mit sich herumschleppte. Dafür konnte Agnoli nichts, und die »Transformation der Demokratie«, deren Aussagen noch immer Gültigkeit beanspruchen dürfen, trifft auch keine Schuld.

Agnoli war bis dahin als Autor radikaler Schriften nicht auffällig geworden, hinter ihm lag aber eine beschwerliche Bildungsreise. Am 22. Februar 1925 im einem italienischen Alpendorf geboren, war er als als junger Mann ein glühender Verehrer Deutschlands und verstand sich als Anhänger des (falls denn so etwas geht) faschistischen Hegelianers Ugo Spirito und dessen Korporativstaatideen. Nach Abitur und der deutschen Besetzung Italiens meldete er sich im Herbst 1943 bei der Waffen-SS, die ihn an die Gebirgsjäger der Wehrmacht vermittelten. Sein Regiment war bei der Bekämpfung der jugoslawischen Partisanen im Einsatz, im Mai 1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft und wurde in einem Lager im ägyptischen Moascar interniert. Keineswegs geläutert, sondern noch immer von Größe und Glanz Deutschlands überzeugt, setzten die Briten Agnoli gleichwohl in Reeducation-Programmen als Lehrer ein, als der er Philosophiegeschichte des Neukantianers Wilhelm Windelband unterrichtete. 1948 entlassen fand er den Weg nach Südwestdeutschland und schrieb sich ein gutes Jahr später an der Universität Tübingen ein. Ein kritisches Verhältnis zu Staat und Kapital haben ihm dort seine beiden maßgeblichen Lehrer, der ehedem deutschnationale Philosophieprofessor Eduard Spranger und der Staatsrechtler Theodor Eschenburg, vordem als Anwalt Arisierungsprofiteur, ganz sicher nicht nahegelegt. Aber es gab immerhin ein paar Sozialdemokraten unter den Hochschulangestellten, und 1957 trat Agnoli der SPD bei, aus der er 1961 bereits wieder ausgeschlossen wurde, da er Mitglied der Fördergesellschaft des inzwischen von der sozialdemokratischen Partei per Unvereinbarkeitsbeschluss abgestoßenen SDS war. Die Hinwendung zu marxistischen Positionen war allerdings schon etwas früher erfolgt, die entsprechende Literatur hatte Agnoli sich bei der Tübinger KPD besorgt. Über Umwege und auf Empfehlung von Wolfgang Abendroth gelangte Johannes Agnoli 1962 schließlich ans Otto-Suhr-Institut (OSI) in Westberlin, wo erste Vorarbeiten zur »Transformation der Demokratie« entstanden.

Die Schrift war nicht als Vademecum wütender Studenten konzipiert, sondern vielmehr eine Intervention in eine laufende politikwissenschaftliche Debatte vor dem Hintergrund politischer Neuorientierungen in der Bundesrepublik. 1965 stellte Bundeskanzler Ludwig Erhard einer noch schläfrigen Öffentlichkeit den Plan einer »formierten Gesellschaft« vor. Die Absicht war, die Nation zu einer »großen Willenseinheit« zusammenzuschweißen, denn »die großen Fragen«, die zu lösen seien, »können nicht nach den Sonderinteressen der einzelnen Gruppen beantwortet werden«. Die innenpolitische Zurichtung zielte auf außenpolitische Erstarkung. Der Spiritus rector des Konzepts war Rüdiger Altmann, ein Repräsentant des deutschen Kapitals und Schüler Carl Schmitts. Andere Adepten des, nun ja, faschistischen Staatsrechtlers waren, obzwar oder weil politisch schwer belastet, längst auf ihre Lehrstühle zurückgekehrt und lieferten zusammen mit ihrem Meister das ideologische Besteck. Deren antipluralistische Staatslehre lief darauf hinaus, dass der einheitliche politische Wille des Staates nicht das Ergebnis konkurrierender politischer oder sozialer Gruppen sein dürfe, sondern sei als für das Ganze verbindlicher allgemeiner Wille nur innerhalb des Staates als des Souveräns zu bilden. Dagegen hatten Agnolis Kollegen am OSI wie Ernst Fraenkel und Kurt Sontheimer mit ihrer linksliberalen Pluralismuskonzeption argumentiert, wonach sich ein erstrebenswerter gesellschaftlicher Konsens und erfolgreiches staatliches Handeln als Ergebnis von demokratischen Aushandlungsprozessen zwischen heterogenen Interessengruppen herstelle.

In der »Transformation der Demokratie« entlarvte Agnoli solchen Pluralismus als einen realen Schein. Seine radikale Parteien- und Parlamentarismuskritik hat man deshalb bisweilen der Nähe zu Carl Schmitt geziehen, und der Historiker Wolfgang Kraushaar glaubte gar, darin das Echo einer »linksfaschistischen« Vergangenheit zu vernehmen. Solchen verleumderischen Unsinn hat Agnoli dann selbst in einem Aufsatz von 1986 in der Zeitschrift Prokla so spöttisch wie schlagend zurückgewiesen. Seine Kritik der parlamentarischen Demokratie ist eine radikal linke und genuin marxistische.

Unter Transformation der Demokratie – die politischen Zustände der Bundesrepublik liefern ihm das Material – versteht Agnoli eine formal scheinbar neutrale Modernisierung von Herrschaftsmitteln. Sie ist indes das Ergebnis einer, wie er es nennt, Involution, einer Bewegung hin zu einem »autoritären Staat rechtsstaatlichen Typus«, also unter Wahrung und Inanspruchnahme bestehender Verfassungsnormen und -formen bei Entleerung ihres Inhalts und Perversion ihres Versprechens: Änderung sich selbst gleichbleibender Verhältnisse. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Sicherung des sozialen Friedens unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts, mit dem, diese Gefahr droht der herrschenden Klasse, in Aussicht gestellt ist, »dass der Durchbruch zur sozialen Emanzipation – und nicht bloß die Reproduzierung des Klassenkampfes – auf dem Boden und mit den Mitteln der bürgerlichen Verfassung erfolgen kann«.

Befriedung erfolgt vor dem Hintergrund einer verdoppelten gesellschaftlichen Wirklichkeit: erstens der antago­nistische Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auf der Ebene der Produktion, zweitens die Pluralität der Interessen auf der Ebene der Distribution. Agnoli wirft den Verfechtern des Pluralismusansatzes nun vor, den Klassenwiderspruch zu verdunkeln, indem solche Pluralität in den Vordergrund gerückt werde. Gespiegelt ist damit allerdings auch bloß die Praxis des politischen Betriebs: Antagonismus und Polarität werden »von jeder Form staatlicher Veröffentlichung ferngehalten (…). Der so zwischen Konsumwerbung und Distributionspolitik eingekeilte Einzelne kann die doppelte Wirklichkeit nur noch halb sehen: die ›Republik des Marktes‹ und nicht die ›Despotie der Fabrik‹«.

Das parlamentarische Regierungssystem spiegelt die Reduktion des Antagonismus der Aneignung auf den Pluralismus der Verteilung wider, die Massen müssen auf das parlamentarische Spiel und auf die reinen Distributionskonflikte der Parlamentsparteien untereinander festgelegt werden: Wahlzettel statt Gewehrkugeln. Parteien vertreten demgemäß keine klassengebundenen Interessen mehr und werden zur »allgemeinen Ausgleichsstelle«. Sie »trennen sich von der eigenen, aktuellen oder potentiellen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen«. Umgekehrt heißt das: Die Parlamentarisierung der Linken (»die Verwandlung des Fortschritts zu einer staatlich anerkannten Einrichtung«) wird zu einer »Lebensfrage des Kapitalismus«.

Man wird finden, dass wenig von dem, was Agnoli vor knapp 60 Jahren aufgeschrieben hat, an Bedeutung eingebüßt hat. Die »Transformation der Demokratie« hat kaum Patina angesetzt. Staatsumbau ist eigentlich immer, und wer Hoffnung auf Änderung per Wahlzettel hegt, ist ein Narr.

Neuveröffentlichung: Michael Hewener (Hrsg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft, Dietz-Verlag, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 Euro

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