Streben nach Auskommen
Von Kai Köhler
Wie lebt man in anderen Teilen der Welt, wie werden dort soziale Auseinandersetzungen geführt? Ein Vorteil der Berlinale besteht darin, den Blick dafür zu weiten. Aufs chinesische Kino etwa, das in diesjährigen Wettbewerb mit zwei Filmen vertreten war. Vivian Qus »Xiang fei de nv hai« zum Beispiel führt ins gegenwärtige China. »Frauen am Seil«? Der Titel lässt sich durch den Beruf von Fang Di erklären, die als Stuntfrau in Martial-Arts-Filmen arbeitet. Natürlich sind die unwahrscheinlichen Sprünge in solchen Produktionen nur durch Tricks zu erklären. Mal um Mal lässt Fang Di mit sich geschehen, wofür sich die Hauptdarstellerinnen zu schade sind: auf Dächer hieven oder aus eiskaltem Flusswasser empor, um dann in Kampfposition mit dem Schwert bereitzuhocken. Aber warum macht sie das? Ihre Familie hat in der Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung eine Textilfabrik gegründet, die nicht gut läuft – jedenfalls nicht gut genug, um die Drogensucht des Vaters zu finanzieren. Fang Di hat die Schulden der Familie übernommen und wird nun von Geldeintreibern bedroht. Dann kommt auch noch ihre Cousine Tian Tian zu ihr. Sie war Geisel der Kredithaie, ist aus ihrem Verlies mit knapper Not entkommen, hat dabei einen der Schurken erledigt und wird nun natürlich von dessen Kumpanen gesucht.
Was folgt, zeichnet sich durch eine gelungene Kombination von Ernst und Burleskem aus, wird geschickt auf zwei Zeitebenen erzählt und ist in den Dialogen nicht frei von Sentimentalität. Fang Di nämlich will zuerst mit dem zusätzlichen Problem nichts zu schaffen haben und akzeptiert erst allmählich ihre Rolle als Beschützerin der jüngeren Tian Tian. Freilich ertrinkt diese zuletzt, am Ende steht das Scheitern und damit ein zusätzlicher emotionaler Effekt. Die Polizei handelt effektiv, wenn sie gerufen wird, ist aber sonst nicht zu sehen. In einem chinesischen Unterhaltungskino, das Probleme wie wirtschaftliches Scheitern und Wucherkredite verhandelt, geht es ums Überleben.
Anders liegen die Dinge in dem Wettbewerbsbeitrag »Geu jayeoni nege mworago hani« (What Does Nature Say to You) von Hong Sang Soo. Hong siedelt seine Filme zumeist in (kosmopolitischen) südkoreanischen Milieus an, in denen Geld keine allzu große Rolle spielt. Seine Figuren sind Künstler oder lassen sich sonstwie durchs Leben treiben, und sie scheinen unendlich viel Zeit zu haben, die sie durch Gespräche, Essen und Trinken füllen. Hier geht es um den Poeten Donghwa, der nach dreijähriger Beziehung eher zufällig den Eltern und der Schwester seiner Freundin Junhee vorgestellt wird. Es beginnt ein gegenseitiges Abtasten, zunächst im Rahmen von Höflichkeitskonventionen, dann manchmal auch gröber über deren Grenzen hinaus. Bald wird klar, dass Donghwa zwar Sohn eines wohlhabenden Anwalts ist, aber von seinem Vater kein Geld annehmen will.
Niemand in diesem Film ist böse. Was im südkoreanischen Normalfall dazu führen würde, dass Donghwa als möglicher Schwiegersohn ausfällt, ruft bei Junhees Eltern zwar Skepsis hervor, doch keine harte Intervention. Die 24 Stunden eines sonnigen Frühlingstags, die die Handlung umfasst, sind von einer Spannung anderer Art geprägt. Wie gewohnt, stellt Hong genau Kommunikation und besonders ihre Fallstricke dar: Verlegenheitspausen und die meist unbeholfenen Versuche, sie zu überwinden; das Nach- und Ineinander von Floskeln und Ansätzen, etwas Substantielles mitzuteilen. Zweiergespräche wechseln ab mit präzise choreographierten Gruppenszenen. Dies gelingt Hong, der seine Filme in rascher Folge dreht und seit Jahren auf jeder Berlinale mit mindestens einem Werk vertreten ist, mal mehr, mal weniger gut. Der diesjährige Beitrag gehört zu seinen stärkeren.
Der uralte Wagen, mit dem Donghwa Skepsis auf sich zieht, ist zwar noch ein Luxusauto verglichen mit der Karre, mit der in »Vaghachipani« der Grundbesitzer Prabhu unterwegs ist. Doch herrscht Prabhus Familie in dem Ort, der dem indischen Film von Natesh Hegde den Titel gibt, seit mehr als einer Generation. Der Feudalherr erweist sich zuweilen als gnädig und erwartet dann natürlich Dankbarkeit und Gehorsam. Wer sich widersetzt, und sei es sein jüngerer Bruder, hat Schläge und Schlimmeres zu erwarten.
Freilich gibt es plötzlich bei der Bürgermeisterwahl einen Gegenkandidaten. Prabhus Wahlkampf beruht nicht auf Argumenten. So lässt er sich zu ein paar Bauern fahren und kündigt an, ein Lied zu singen. Wenn sie danach klatschen, bedeute dies, dass sie ihn unterstützen. Einer wagt zu sagen, er wolle sich auch den anderen Kandidaten anhören. Mit einer Handbewegung hält Prabhu den bulligen Gefolgsmann zurück, der die Sache auf die anscheinend übliche Weise klären will.
In dem Hügelland irgendwo im indischen Südwesten werden also Gegensätze handgreiflich ausgetragen. Dorf und Kleinstadt sind dramaturgisch geeignete Orte. Die Leute können sich kaum aus dem Weg gehen. Bald kommen zum Wahlkampf weitere Konfliktlinien hinzu. Prabhus Bruder will eine Frau aus einer niederen Kaste heiraten. Eine geistig zurückgebliebene Jugendliche, die für Prabhu Vieh hütet, ist schwanger und wurde offenkundig vergewaltigt. Mit der Polizei tritt eine weitere machtbewusste Kraft auf den Plan.
Zerbröckelt das Alte? Am Ende hat sich der Grundherr in jeder Hinsicht durchgesetzt. Als Fortschritt kann allenfalls gelten, dass es schwieriger war als früher. Der Film erlaubt einen Blick auf Kämpfe, die an vielen Orten der Welt noch nicht entschieden sind. Fast stets droht körperliche Gewalt. Aber wie Prabhus Schläger vom Filmbeginn sich nur schwer entschließt, einen befohlenen Mord zu begehen, zeigt auf knappe Weise ein Seelenleben, das nicht weniger komplex ist als das eines erfolglosen Literaten.
»Xiang fei de nv hai«, Regie: Vivian Qu, VR China 2025, 115 Min., Wettbewerb, 23.2.
»Geu jayeoni nege mworago hani«, Regie: Hong Sang Soo, Südkorea 2025, 108 Min., Wettbewerb, 22.2., 23.2.
»Vaghachipani«, Regie: Natesh Hegde, Indien/Singapur 2025, 87 Min., Forum
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