»Grundlage für all das sind die Kürzungen«
Interview: Gitta Düperthal
In Baden-Württemberg wurde am 19. Februar eine geflüchtete Frau aus einer Gemeinschaftsunterkunft heraus bei Minustemperaturen auf die Straße gesetzt. Wenige Stunden später befand das Sozialgericht Karlsruhe in einer Eilentscheidung: Das ist verfassungs- und europarechtswidrig. Was genau ist geschehen?
Diese Frau, über deren Fall die Behörde in Baden-Baden entschied, war bei ihrer Flucht über Kroatien gekommen. Das Sozialamt hatte ihren Rauswurf damit begründet, dass sie sich wieder in das für ihr Asylverfahren zuständige Land begeben müsse. Deutschland sei nicht zuständig. Sie erhalte keine Leistungen mehr, dürfe nicht in der Unterkunft bleiben. Grundlage für all das ist die von der Ampelregierung beschlossene Leistungsstreichung. Die Frau hatte sich schnell an eine Sozialberatung vor Ort gewandt, die Pro Asyl kontaktierte. Weil sie kein Geld hatte, stellten wir einen Anwalt. Wenige Stunden später, nach dem Richterspruch, konnte die Geflüchtete in die Unterkunft zurückkehren.
Das ist kein Einzelfall: In Darmstadt, Trier, Osnabrück, Landshut und Nürnberg urteilten Sozialgerichte ähnlich. Diese Menschen haben recht, bekommen es zugesprochen, landen aber trotzdem erst auf der Straße.
Wie begründete das Gericht seine Entscheidung?
Das Gericht bezog sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes – »Die Menschenwürde ist unantastbar« – in Verbindung mit Artikel 20, also dem Sozialstaatsprinzip. Ein Existenzminimum muss gegeben sein. Die Ampelregierung hatte das sogenannte Sicherheitspaket verabschiedet, obwohl klar war, dass es rechtswidrig ist. Es trat am 31. Oktober 2024 in Kraft und wurde als Symbolpolitik bezeichnet, obwohl klar war, dass es sich auf das Leben von Menschen auswirken und sie in Notsituationen bringen würde. Wir und andere Expertinnen und Experten der Zivilgesellschaft hatten die Bundesregierung zuvor gewarnt, dass das Recht auf eine Existenzsicherung in der Verfassung festgeschrieben ist, an das sich die deutschen Behörden halten müssen. Man hat uns aber nicht ernst genommen.
Wie kam es dazu, dass ein rechtlich unhaltbares Gesetzespaket durchgesetzt wurde?
Dieses vermeintliche »Sicherheitspaket«, das auch Regelungen zur Asylpolitik enthält, wurde im Bundestag als Reaktion auf einen Terroranschlag verabschiedet. Es führte zur Entrechtung der geflüchteten Menschen in Deutschland, die unter Generalverdacht gestellt wurden. Man regelte, dass sogenannte Dublin-Fälle, die über andere europäische Länder einreisen, keine sozialen Leistungen mehr in Deutschland beziehen dürfen. Die Bundesregierung begründete es so: Diese Menschen könnten in das Land, das sie zuerst betreten haben, »freiwillig« zurückkehren. Man kann sie nicht einfach abschieben. Es erfordert ein Verfahren in Deutschland und in dem anderen EU-Staat. Menschen unterdessen in die Obdachlosigkeit zu schicken, ihnen nichts zu essen zu geben, sie im Winter frieren zu lassen: Mit Menschenwürde hat das nichts zu tun. Gefragt wird weder nach ihrer gesundheitlichen Situation noch danach, ob Kinder dabei sind. Eine Bundesregierung darf in einem Rechtsstaat so nicht agieren.
Die Verhandlungen der künftigen Regierungsparteien CDU und SPD laufen an. Sie fordern, rechtmäßige Asylpolitik zu betreiben. Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein, dass sich etwas ändert?
Die Ampelregierung nahm den Verfassungsbruch hin und somit auch das Leid von Menschen, die in Deutschland keine Stimme haben und nicht wählen können. Die Strategie, Rechtspopulisten so zu befrieden, funktioniert nicht. Sie sind nur noch radikaler geworden. In Deutschland haben viele Menschen tagtäglich soziale Probleme. Es ist ein Fehlschluss, zu meinen, die lösen zu können, indem man widerrechtliche asyl- und aufenthaltsrechtliche Regelungen schafft und die Geflüchteten im Land missachtet. Wir brauchen den Ausbau der Infrastruktur, einen Mindestlohn, von dem man leben kann, bezahlbaren Wohnraum, Investitionen in den öffentlichen Verkehr: eine bessere Sozialpolitik.
Tareq Alaows ist flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl e. V.
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