Atlas der Imaginationen
Von Matthias Reichelt
Von Casanova stammt das Zitat »Ich bin stets nach Auszeichnung begierig gewesen und habe stets die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken geliebt«. Das könnte auch auf Venedig zutreffen, wo er 1725 geboren wurde. Die Stadt zählt mittlerweile weniger als 50.000 Einwohner und stellt die gleiche Anzahl an Betten für Touristen bereit. Übers Jahr strömen mehr als 15 Millionen Touristinnen und Touristen in die Stadt. Dabei muss man gar nicht vor Ort gewesen sein, um ein durch Kino, Literatur, Fotografie, Werbung, aber auch architektonische Rekonstruktionen geprägtes Bild von der vielbeschriebenen Stadt im Kopf zu haben.
Der Zeichner, Schriftsteller, Kulturhistoriker und -kritiker John Ruskin (1819–1900) machte sich bereits im 19. Jahrhundert große Sorgen um den Fortbestand der Lagunenstadt, die er durch Industrialisierung und Modernisierung bedroht sah, wie die Künstlerin Stefanie Bürkle in ihrer sehenswerten Ausstellung »Venice Be Real« im Berliner Projektraum Meinblau in Erinnerung ruft. Im Zentrum des kapellenartigen Raums und damit der Ausstellung steht eine große Videoprojektion. Die Aufnahmen wurden mittels Drohne gefilmt und zeigen Venedig aus der Vogelperspektive. Was auf den ersten flüchtigen Blick das von vielen Kanälen durchzogene Häusermeer zeigt, entpuppt sich als eine Installation aus unzähligen Fotografien, die als Karte der Stadt im Studio der Künstlerin angeordnet wurden.
Stefanie Bürkle, die an der Technischen Universität Berlin lehrt, betreibt dort seit 2022 das Forschungsprojekt »Imaginationen Venedigs«. Seit 25 Jahren reist sie immer wieder nach Venedig und hat mittlerweile ein riesiges Bildarchiv von mehreren tausend eigenen Fotos angelegt. Darin befinden sich auch Aufnahmen, die Bürkle von den architektonischen Venedigkopien im Park »Fenster zur Welt« im chinesischen Shenzhen und in Las Vegas gemacht hat. Zudem integrierte sie Bilder von Phantasmagorien Venedigs in deutschen Städten, zum Beispiel von »Venezia«-Eisdielen. All diese zusammengetragenen Bilder ergeben den »Atlas der Imaginationen Venedigs«, denn auch Bürkles Fotografien der realen Stadt transportieren ja »ihr« Venedig-Bild. Die Projektion wird von einer Tonspur begleitet, eine KI-Stimme spricht diverse Zitate von Goethe bis Ruskin und viele Auszüge aus Interviews über Venedig. Darunter ist auch die Schilderung des lateinamerikanischen Revolutionärs Francisco de Miranda, der 1785 an die Adria kam und sich über die »grottenschlechte Oper« und den »Pöbel« ausließ.
Bürkles Forschung zeigt, dass dieser geschichtsträchtige Ort in einem virtuellen Raum tausendfach reproduziert wurde, die so entstandenen Bilder aber nur bedingt mit der Wirklichkeit vereinbar sind. »Unser« Venedig-Bild ist von romantischen Vorstellungen, aber auch der Kritik am modernen Massentourismus geprägt. Dazu passt, dass die sich herabsenkende Drohne den als Stadtkartographie Venedigs ausgelegten Bildkanon auseinanderbläst und so das von Bürkle geschaffene Bild dekonstruiert.
Die zentrale Projektion wird flankiert durch einige vergrößerte Fotos aus Bürkles Atlas, darunter auch absurde Motive von »venezianischen« Townhouses in Los Angeles. Auf der Empore ist noch ein anderes Video mit von der Künstlerin geführten Interviews mit Einwohnerinnen, Stadtsoziologen, Architekten und Aktivistinnen zu sehen. Hier rückt die brutale Verdrängungspolitik aufgrund des Tourismus in den Fokus. Denn die meisten der ehemaligen Bewohner können sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten. Oder, wie es eine Einwohnerin Venedigs formuliert: »Um die Stadt mit Touristen zu füllen, musste sie vorher geleert werden.«
Stefanie Bürkle: Venice Be Real. Meinblau, Christinenstrasse 18–19, Pfefferberg-Haus 5, 10119 Berlin, bis 23. März 2025, Do.–So., 14–19 Uhr
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Gundula Schulze Eldowy28.03.2024
Training für die schlaffe Seele
- nik/jW12.05.2022
Archiv der Gewalt
- Gueffroy/imago07.12.2021
»Ich dachte, die Wörter gehören mir nicht«
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Das Subjekt will wirksam werden
vom 05.03.2025 -
Rotlicht: Rüstungskeynesianismus
vom 05.03.2025 -
Nachschlag: Rundfunk total kaputt
vom 05.03.2025 -
Vorschlag
vom 05.03.2025 -
Veranstaltungen
vom 05.03.2025 -
Spengler, Röhl, Ebstein
vom 05.03.2025 -
Holz aus dem Pool
vom 05.03.2025 -
Das Messer am Hals
vom 05.03.2025 -
Westen kaputt
vom 05.03.2025