Das Subjekt will wirksam werden
Von Martin Küpper
Auf der Suche nach marxistischer Literatur stieß ich vor 15 Jahren in einem Antiquariat auf ein Buch, auf dem gestempelt stand: »Wir geben dieses Buch zu DM 2,- ab. Wer mehr als DM 3,- dafür verlangt, ist ein Schmarotzer und sollte entsprechend bestraft, d. h. beklaut werden.« Das gefiel mir, ich nahm den Raubdruck mit, obwohl ich viel mehr dafür bezahlen musste. Das Buch landete allerdings ungelesen in meinem Regal. Einige Jahre später lernte ich am Rande einer Veranstaltung den Autor des Bandes kennen: Erich Hahn, der am 5. März seinen 95. Geburtstag feiert. Mir fiel damals auf, wie aufmerksam, freundlich und offen er auf andere, auch viel jüngere Menschen zuging. Ich erinnerte mich an das Buch in meinem Schrank, eines der meistgelesenen Bücher der 68er, wie ich später erfuhr.
Der in Kiel geborene Hahn gehörte zu einer Generation von Marxisten, die zum ersten Mal in Kontakt mit der marxistischen Philosophie kamen, als gerade die materiellen und geistigen Trümmer des Hitlerfaschismus beseitigt wurden. Als landwirtschaftlicher Lehrling begegnete er ihr in der politischen Arbeit der FDJ, für die er auch ein Jahr lang hauptamtlicher Instrukteur in der Kreisleitung Nauen war. Nach einem Geschichtsstudium an der HU Berlin wechselte er bald zur Philosophie, wurde wissenschaftlicher Assistent und Aspirant bei Hermann Scheler. Anfang der 60er Jahre promovierte er mit einer Arbeit über das sozialistische Bewusstsein der Genossenschaftsbauern. Hahns weiterer Werdegang liest sich beispielhaft, die Liste seiner Ämter ist lang und zeigt, dass er im Laufe der Zeit zu einem der wichtigsten Philosophen der DDR avancierte. So war er ab Mitte der 60er Jahre Leiter des Lehrbereichs Historischer Materialismus am Institut für Philosophie, später Direktor des Instituts für Marxistisch-Leninistische Philosophie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für Marxistisch-Leninistische Philosophie der DDR. Seit Anfang der 1970er Jahre war er Kovorsitzender der Gemeinsamen Kommission von Philosophen der DDR und der UdSSR. 1976 wurde er Kandidat für das Zentralkomitee, dem er von 1981 bis 1989 angehörte. Mit dem Ende der DDR wurde er zwangsweise in den Vorruhestand versetzt und ist seitdem in zahlreichen Organisationen wie der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin tätig.
Mit seiner Schrift »Soziale Wirklichkeit und soziologische Erkenntnis« (1965) trug er u. a. dazu bei, die Soziologie als Disziplin im Kanon der Wissenschaften der DDR zu etablieren. Als Autor wirkte er an den wichtigsten Lehrbüchern und Lexika des Marxismus-Leninismus mit. Zusammen mit Alfred Kosing verfasste er 1978 eine Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie, »geschrieben für die Jugend«. Im Vergleich zu heutigen, eklektischen und oft viel zu komplizierten Einführungen verdient diese bis heute »bewahrt und beachtet, sprich: gelesen zu werden« (Dieter Reichelt).
Zwei Elemente ziehen sich wie rote Fäden durch Hahns Schriften. Zum einen das Werk von Georg Lukács, mit dem er unter anderem durch seinen Lehrer Hermann Scheler bekannt gemacht wurde, zu dem er nach 1989 zahlreiche Beiträge verfasste und dem er 2017 eine Monographie widmete. Zudem anderen ist da der Ideologiebegriff, den er nicht müde wurde zu behandeln. Mit Lukács betont Hahn, dass Ideologie nicht auf »falsches Bewusstsein« reduziert werden dürfe, sondern im Verbund mit anderen ideellen Vehikeln wie Zwecken, Ideen oder Interessen dazu diene, »menschliches Handeln auf gesellschaftlich wichtige Erfordernisse zu orientieren, die sich als Widersprüche darstellen«. Gegen die auch im heutigen Marxismus vorherrschende Position, dass Ideologie »wie Mundgeruch« immer das sei, »was die anderen haben«, wie Terry Eagleton polemisch anmerkt, sollte laut Hahn vielmehr der Grad und die Modi der Wirksamkeit von Ideologien untersucht werden. Ob eine Ideologie wahr oder falsch sei, sei nicht unwichtig, aber »wahres Bewusstsein ist nicht davor gefeit, an den gegebenen Bedingungen zu scheitern«. In seiner Schrift »Materialistische Dialektik und Klassenbewußtsein« (1974), deren Titel eine Anspielung auf Lukács ist, schreibt Hahn der Linken ins Stammbuch, dass die Dialektik von objektiven und subjektiven Bedingungen im Geschichtsprozess gerade darin bestehe, »zur theoretischen Analyse der Möglichkeiten der Beeinflussung der gesellschaftlichen Entwicklung durch das Handeln eines bestimmten Subjekts« beizutragen. Theorie hat also immer die Bedingungen des Handelns zu untersuchen. Die subjektiven Bedingungen bestimmen die »Fähigkeit des betreffenden Subjekts zur Wirksamkeit«, und meinen damit nicht zuletzt Bewusstheit und Organisationsgrad. Die objektiven Bedingungen umfassen die politischen, ideologischen und ökonomischen Parameter, die vom Subjekt zu berücksichtigen sind.
Diese Position hat ihn nach 1989 weder zum Wendehals noch zum Apologeten werden lassen. Vielmehr hat er in vielen (selbst-)kritischen Beiträgen und hart geführten Diskussionen, in denen er auch als ehemals Verantwortlicher heftigster Kritik ausgesetzt war, gezeigt, dass der historische Ort und das Ende des Sozialismus im 20. Jahrhundert – auch unter Linken – nach wie vor ziemlich ungeklärt sind.
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