Brandbomben auf Tokio
Von Igor Kusar
Am 10. März jährt sich der zerstörerischste konventionelle Luftangriff aller Zeiten zum 80. Mal. In jener kalten Frühjahrsnacht starben rund 100.000 Menschen in den Flammen von Tokio, die US-Bomber entfacht hatten. Als Shizuko Nishio, die an jenem Tag ihren sechsten Geburtstag feierte, um halb sechs Uhr morgens aus dem Schutzraum der Oberschule trat, wo sie die Nacht verbracht hatte, breitete sich vor ihr eine Landschaft aus, die sie an die Mondoberfläche erinnerte – außer einigen Gebäuden aus Stahlbeton stand die Stadt in Ruinen da. Vor dem Eingang zur Oberschule türmten sich Leichen – Menschen, die keinen Schutz vor der Feuersbrunst gefunden hatten.
Die USA hatten ihr Ziel mit grausamem Bedacht gewählt. Im Stadtteil Shitamachi in Osttokio, wo seit Jahrhunderten Händler und Handwerker lebten, waren die meisten Häuser aus Holz und standen dicht gedrängt nebeneinander. Zuvor von den USA entwickelte Brandbomben wirkten dort verheerend. US-Strategen hatten dabei die Auswirkungen des Großen Kanto-Erdbebens 1923 in Tokio genau studiert, wo tagelange Feuer die Zahl der Häuser dezimiert hatten, Zehntausende waren verbrannt. Helfen sollten der US-Luftwaffe bei ihrem barbarischen Unternehmen auch die Winde, die in dieser Jahreszeit besonders stark über die Kanto-Ebene fegten.
Kurz nach zwölf in der Nacht vom 9. auf den 10. März erreichten 334 B-29-Bomber die japanische Hauptstadt. Ihre Mission war klar: Shitamachi sollte in Schutt und Asche gelegt, seine Bürger getötet werden. Nishios Vater, der mit seiner Familie mitten im Stadtteil wohnte, war Arzt und in jener Nacht nicht zu Hause. Nachdem die Luftangriffe eingesetzt hatten, kam er keuchend nach Hause und drängte die Familie, im hauseigenen Schutzraum Zuflucht zu suchen, erzählt seine Tochter jW. Er verließ die Familie, um nach einer Stunde wiederzukommen: »Dieser Angriff ist anders, der Schutzraum wird ihm nicht standhalten – flieht, flieht in die Grundschule.« Doch als die Familie die Schule erreicht, ist der Bunker überfüllt. Sie werden nicht reingelassen.
In einer nahen Oberschule finden sie Zuflucht. Für Shizuko, die auf dem Rücken der Mutter ausharrte, sind es vor allem die Stunden im Schutzraum, die in Erinnerung geblieben sind: die Dunkelheit, der Modergeruch, der eisige Boden, der Rauch, der langsam eindrang – und dann das Klopfen an die Tür und die Hilfeschreie der Sterbenden draußen. Doch die Pforte blieb verschlossen. Die USA warfen insgesamt fast 400.000 Bomben über der Stadt ab. Die Wirkung war katastrophal: Die Bewohner starben an extremer Hitze, an Sauerstoffmangel, wurden von Menschenmassen zertrampelt oder ertranken. Neben den vielen Toten gab es am Ende des Tages 120.000 Waisen, fast 300.000 Gebäude wurden zerstört.
Am folgenden Morgen machte sich Nishios Familie auf den Weg nach Hause. Ihr Grundstück erkannten sie am Tresor, der aus den Ruinen ragte und zu einem Gutteil geschmolzen war. Davor stand der Vater, kaum wiederzuerkennen: Die Haare versengt, die Kleider durchlöchert, die Augen kaum geöffnet. Als er Frau und Tochter erblickte, begann er zu weinen. Shizuko reicht er eine Mandarine, die er in der Jackentasche verwahrt hatte – sie ist so heiß wie ein gekochtes Ei.
Die Dimensionen dieser Kriegführung sind schwer fassbar. Als die USA im Sommer 1944 die Marianeninseln im Pazifik eroberten, rückten Japans Hauptinseln in Reichweite der US-Bomber. Bis Kriegsende wurden fast alle japanischen Städte zu weiten Teilen zerstört. Nach Schätzungen starben dabei mehr als 300.000 Menschen, die Toten von Hiroshima und Nagasaki nicht mitgerechnet. Während die Zerstörung Dresdens durch britische und US-Bomber im Februar 1945, bei der rund 25.000 Menschen starben, vor allem in Großbritannien einen gewissen Wirbel entfachte und sogar im britischen Parlament Fragen von Moral und Legitimation aufwarf, lösten die viel verheerenderen Luftangriffe auf japanische Städte in den USA keine Distanzierungen, geschweige denn Proteste aus.
Zwar wurden die zerstörerischen Mittel im Krieg nach und nach perfektioniert, erklärt ist damit aber nicht das ideologische Kalkül, mit dem die USA den Pazifikkrieg führten. Die Legitimation für ihre Aktionen ergab sich aufgrund ihres Selbstbildes als gütige Großmacht und der Wahrnehmung der Japaner als brutal und unterentwickelt. Die Eliminierung von Zivilisten wird bis heute als Kollateralschaden abgetan. Auch beim Luftangriff auf Tokio behauptete Washington, das wahre Ziel sei die Vernichtung von militärischen Produktionsstätten in Shitamachi gewesen.
Hintergrund: Kollektive Amnesie
Japan ist mit der geistigen Bewältigung des Zweiten Weltkriegs nie so recht zu Rande gekommen. In diese Problematik ist auch die Aufarbeitung des »Großen Luftangriffs auf Tokio« eingebettet. Die genauen Umstände oder das Datum der Bombardierung können nur die wenigsten Japaner benennen. Im Schulunterricht kommt sie kaum zur Sprache. Die Japaner wollten den Krieg möglichst schnell vergessen. Diese Amnesie war schon in der US-Besatzungszeit, die bis 1951 dauerte, angelegt worden. Die US-Zensurbehörde verbot den japanischen Medien jegliche Kritik an den US-Kriegsverbrechen. Im Tokioter Prozess, wo bis 1948 die Kriegsverantwortlichen angeklagt worden waren, wurde die alleinige Kriegsschuld der japanischen Armeeführung zugeschoben. Die US-Kriegsverbrechen kamen nicht, die japanischen Verbrechen an Asiaten nur begrenzt zur Sprache. Dadurch befreiten die USA die japanische Bevölkerung von der Sühne gegenüber ihren asiatischen Nachbarn. Die japanische Akzeptanz des Urteils von Tokio führte 1951 zum US-japanischen Sicherheitsvertrag. Die USA wurden Japans Schutzmacht, eine Kritik an ihnen verbat sich.
Auch bei den Entschädigungszahlungen schaffte es Japan nicht, mit sich ins Reine zu kommen. Bei den Auszahlungen für die Kriegsopfer wurde – anders als in Deutschland – klar zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden. Während etwa die Hinterbliebenen der auf dem Schlachtfeld Gefallenen Abfindungen erhielten, gingen die zivilen Opfer leer aus. Sie wurden als Menschen behandelt, die nichts zum Krieg beigetragen hatten. Klagen vor Gericht, die sie anstrengten, wurden abgewiesen. Vielmehr kam es zu Diskriminierungen der vielen Kriegswaisen, denen mit sozialer Kälte begegnet wurde. (ik)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Klaus W. aus Leipzig (7. März 2025 um 11:58 Uhr)»Die letzten Glühwürmchen« ist ein Kriegsfilm von Isao Takahata, welcher auf den Kurzroman »Das Grab der Leuchtkäfer« von Akiyuki Nosaka basiert. Dieser sehr traurige Manga beginnt mit den Brandbomben.
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