Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.03.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Wenn Shakespeare verstanden wird

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers André Müller sen
Von Marie Hewelt
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Auf diesen Felsen will ich meine Küche bauen: André Müller sen., der erste Hacksianer

Im Mai 1968 sitzt André Müller sen. mit seiner Frau Anja Weintz in Paris im Quartier Latin, isst Ente à l’orange und beobachtet den Kampf zwischen Polizei und Studenten. Als die aufständischen Studenten mit seinem Auto eine Barrikade errichten wollen, behauptet er, zur Unterstützung der Revolution in Paris zu sein, woraufhin sie sein Auto wieder aus der Barrikade heraustragen und ein anderes nehmen. Er merkt dazu an: »Wenn man sich von den Emotionen nicht anstecken läßt, merkt man genau, daß es eine reine Theaterrevolution ist.« Dieses Revolutionstheater, schreibt Müller, muss zwangsläufig zu einem konterrevolutionären Gegenschlag führen. Revolution und Theater sind zwei Dinge, mit denen er sich zeit seines Lebens als Dichter, Dramatiker, Theaterkritiker, Dramaturgiedozent und Publizist beschäftigt.

André Müller sen. wird am 8. März 1925 als Willi Fetz in Köln geboren. Er ist der Sohn einer jüdischen Mutter, deshalb wird er von den Nazis verfolgt, flieht aus dem Zwangsarbeitslager und führt bis Kriegsende ein Leben im Untergrund. »Ich habe festgestellt, dass mein ganzes Leben nur dann gut ist, wenn ich in der Lage bin, das alles zu verdrängen«, wird er 2010 gegenüber dem Freitag sagen. Wie sein Vater und Großvater vor ihm wird Müller Kommunist, ist erst Mitglied der KPD, dann der DKP, die er 2001 verlässt, weil er sie als revisionistisch einschätzt. Er verbringt als Westdeutscher viel Zeit in der DDR, kann sogar bis zu deren Ende eine Wohnung in Ostberlin halten, da der Dichter Peter Hacks ihn als Stasi-Agenten ausgibt. Brechts »Hofmeister«-Inszenierung bringt den gelernten Tischler Müller zum Theater, und er setzt sich im Arbeitskreis Bertolt Brecht für eine Auseinandersetzung mit dem Dramatiker in der Bundesrepublik ein, emanzipiert sich aber gemeinsam mit Hacks von Brechts Ästhetik. Seine mit Gerd Semmer verfassten »Geschichten vom Herrn B.« verkaufen sich dennoch prächtig. Als Autodidakt erschließt sich Müller das Theater, die Literatur und besonders Shakespeare. 1973 bis 2006 lehrt er als Dozent an der Otto-Falckenberg-Schule in München, um die Miete zu zahlen.

Wenn nun, vier Jahre nach seinem Tod, Müllers 100. Geburtstag begangen wird, dann nicht zuletzt wegen seiner langjährigen Freundschaft mit Peter Hacks, dessen Werk bereits diverse Wiederentdeckungen erfahren hat, ohne freilich dem kulturellen Mainstream verdaulich zu werden. Wie auch in der Freundschaft Eckermann/Goethe ist es leicht, in der Freundschaft Müller/Hacks vor allem den größeren Dichter wahrzunehmen und den anderen außer Acht zu lassen. Doch die Weggefährten beeinflussen sich gegenseitig stark, das dokumentieren etwa Müllers »Gespräche mit Hacks 1963–2003« (2008) und der vor zwei Jahren erschienene Briefwechsel von 1957 bis 2003. Wer diese beiden Bände kennt, wird es nicht dabei belassen. Müller hat ein eigenständiges Werk vorgelegt, das es zu erschließen gilt.

Müllers Roman »Anne Willing« (2007) wurde bisweilen mit zweifelhafter Berechtigung als sein Opus magnum bezeichnet. Die Hauptfigur, Dieter Kaufmann, trägt einige Züge des Autors: das Leben in beiden deutschen Staaten, die Nähe zur Literatur und zum Kulturbetrieb, die Einschätzung der politischen Entwicklungen in DDR und DKP. Auch die Freundschaft mit Hacks nimmt viel Platz ein, in der Geschichte heißt er Felsen. Die Heiner-Müller-Figur des Romans, Sader, nennt ihn ironisch »der große Felsen, auf den sich alleine Marxismus und Ästhetik noch stützen«. Der Roman blickt auf die »Wende vor der Wende«, bereits beim Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker zeichnet sich der Untergang der DDR ab. Nicht verschweigen sollte man aber, dass die Frauenfiguren in diesem Roman in der Hauptsache trotzige, verunsicherte Kleinbürgerinnen oder gewissenlose, opportunistische Karikaturen sind, die es mit der Frauenbefreiung zu eilig haben. Was am Ende zählt, sind Männerfreundschaften. Eine gewisse Geringschätzung für den Feminismus teilen Müller und Hacks, was das Vergnügen an beider Werken auch für eine wohlwollende Leserin nicht wenig eintrübt.

Das tatsächliche Hauptwerk Müllers ist dagegen ein ungeheurer Gewinn und sollte dringend wieder aufgelegt werden: seine Untersuchungen von Shakespeares Dramen in den Bänden »Shake­speare verstehen« (2004) und, vor allem, »Shakespeare ohne Geheimnis« (1980). Dieses Buch eröffnet Shakespeare für alle Leser, akademische und nichtakademische, wie kein zweites, und zwar durch den bestechenden Ansatz, den Text zu lesen, zu sagen, was drinsteht, und den Inhalt mit dem historischen Hintergrund zu verknüpfen. »Kommunismus ist die Zeit, wo Shakespeare verstanden wird«, meinte Hacks und lässt wünschen, mehr Menschen, insbesondere mehr Theaterschaffende, würden Shakespeare so lesen, wie Müller ihn liest. Müller selbst sagt im Interview: »Gäbe es Theater, ginge ich hinein. Es gibt kein Theater mehr. Gut, die Schauspieler sehen das anders. Kann sein, ich bin da hinter dem Mond zurückgeblieben.« Die Frage, wer hinterm Mond lebt, kann sich jeder selbst beantworten. Dafür lese man erst die Shakespeare-Bücher von Müller, gehe dann ins Theater und fälle anschließend sein Urteil.

Proletarische Herkunft und kommunistische Gesinnung halten André Müller sen. nicht davon ab, einen Geschmack für antike Möbel, gutes Essen und ein klassisches Kunstideal zu entwickeln. Essen wir also zu seinem Geburtstag Ente à l’orange, lesen Shakespeare und arbeiten an Revolution und Theater, nicht an Revolutionstheater.

Am 13. März um 19.30 Uhr feiert die Peter-Hacks-Gesellschaft den 100. Geburtstag von André Müller sen. im Café Sibylle, Karl-Marx-Allee 72, 10243 Berlin

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