Geschichte
Von Jürgen Roth
Zwanzig Leute verloren sich im Otto-Kuhr-Saal in der Mission Eine Welt. Den Ort beherrscht der »Sozialkonzern« (Selbstbezeichnung) Diakoneo, der größte Süddeutschlands. Der Vorstandschef, ein Herr Hartmann, ist im Januar »aus persönlichen Gründen« aus dem Amt geschieden, mit einer, wähnen wir, schinkendicken Abfindung.
Hundertdreiunddreißig Mitglieder zählt der 1991 gegründete Heimat- und Geschichtsverein. Meine Mutter war viele Jahre eine der Rechnungsprüferinnen. Zu ehrenamtlichem Engagement sind nur mehr die Alten bereit; der Jüngste im Raum, der Schriftführer, dürfte Anfang sechzig sein.
Der Vorsitzende V., ein besonnener Mann, hält den Einleitungsvortrag, als lese er einen Schulaufsatz vor. Er präsentiert das Programm für 2025, das im wesentlichen die Punkte Kaffeetafeln, Ostereifest, Kirchweihumzug, Spaziergänge, Martinsgansessen und Glühweintrinken umfasst. Zudem sei die Sonderausstellung »Handel und Wandel in Dettelsau« geplant. Und eine Erfolgsmeldung hat er in petto: »Am Weihnachtsmarkt war auch die größere Menge Schweinswürste bald ausverkauft.«
»Sonst ham wir nix geplant«, schließt er und lacht leise, vielleicht über die Sinnlosigkeit des Abends. Apathisch hören die Rentner um mich herum zu, die Kassiererin kämpft mit Excel-Tabellen, der Leiter des Löhe-Zeit-Museums, in das sich im Jahr siebenhundert Menschen verirren, klagt über Heizkosten, die nicht mehr zu schultern seien, über Schimmel und eine teileingestürzte Decke wegen einer Raumtemperatur von zwölf Grad und der Feuchtigkeit.
Es ist rührend – und zutiefst betrüblich. Hätte man nicht schon Depressionen, man bekäme sie hier. Die letzten, die noch etwas anderes tun oder zu tun vermögen, als sich bloß irgendwie durchzuwurschteln, sind gegenüber einer Gegenwart, deren Signum die politisch gewollte Geschichtsvergessenheit, die totale Blödheit aller ist, hoffnungslos im Hintertreffen. Sie richten nichts mehr aus, können nichts mehr anregen. Das Vereinswesen stirbt aus, die Stammtische verschwinden, das Interesse an irgend etwas außerhalb seiner selbst und das Denken siechen dahin. Den Rest erledigen die Verbrecher, die die Welt in einen Profiterzeugungsmoloch verwandeln.
Die vier letzten Jahre seines Lebens verbrachte mein geliebter Großvater im Eichhorn-Haus, das Teil der Diakonie ist (so hieß der Schweineladen Diakoneo bis 2019). Damals, in den Achtzigern, gab es keine Pflegestufen, alle wurden gleich behandelt. Der grenzenlos empathische Pfleger Gerhard kümmerte sich um den Gerch, und seine Zimmernachbarin Johanna lag jede Nacht wach, um zu lauschen, ob es ihm gutgehe.
Irgendwann wandelte man das Heim in der Wilhelm-Löhe-Straße 23 ins Zentralarchiv der Diakoneo um. Drei Bibliotheken hatten in ihm Platz, vierzigtausend Bücher, Urkunden, Dokumentationen.
Bevor er das Weite suchte, ließ der Herr Hartmann, dieser Lump, noch kurzerhand, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, das Haus vollständig ausräumen und all die Schätze in Container kloppen. Freunde von uns bekamen das zufällig mit und retteten einige wenige Bände, Archivalien, Zeugnisse einer Vergangenheit, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht.
Sie hätten sich, hätte man sie dabei erwischt, wie sie verzweifelt und wütend in den Papierbergen wühlten, strafbar gemacht. Nicht strafbar gemacht hat sich der Sozialkonzern Diakoneo mit seiner barbarischen Tat, mit der Vernichtung des »bedeutenden Fundus zur Diakonie- und Sozialgeschichte in Deutschland« (diakoneo.de).
Ich wollte das am Schluss der Mitgliederversammlung zur Sprache bringen, hielt aber nicht durch und schlich mich. Hätte eh nix genützt.
Draußen war es so still, wie es nur still sein kann.
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