Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Immer Ärger mit der Begierde

Objektwahl ist erlernbar: Alain Guiraudies Krimikomödie »Misericordia«
Von Holger Römers
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Liebe deinen Nächsten: Jérémie (Félix Kysyl) und Pater Grisolles (Jacques Develay)

Im Film »Misericordia« sieht ein Dorfpolizist sich irgendwann zu der Spekulation veranlasst, dass er mit der »Macht der Begierde« konfrontiert sei. Soeben ist dem Beamten eine neue Erklärung aufgetischt worden, warum Protagonist Jérémie den Verbleib des Familienvaters Vincent angeblich nicht kennt, obwohl er mit dem einstigen Jugendfreund in der Nacht von dessen Verschwinden zusammen war. Wiederholte Befragungen haben ergeben, was das Publikum dank der konsequent an die Hauptfigur gebundenen Erzählperspektive ohnehin weiß: Der geheimnisvolle Jérémie, der zum Begräbnis von Vincents Vater Jean-Pierre angereist war, hatte seinem Bekannten Walter sexuelle Avancen gemacht, worauf der Vermisste ebenso eifersüchtig reagierte wie auf den Verdacht, der Gast habe ein Auge auf die frisch verwitwete Martine geworfen. Soeben hat nun eine weitere Person ausgesagt, von Jérémie bezirzt worden zu sein – was die Addition von heimlichen Geilheiten und Eifersüchteleien vordergründig ad absurdum führt. Denn nach herkömmlichem Verständnis kann Begierde ja kaum so wahllos gestreut werden, dass sie tatsächlich jedes Kriterium von Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter, Aussehen ignorierte.

Seine herrlich bodenständigen Polizistenfiguren hat Regisseur Alain Guiraudie erkennbar dem Rollenrepertoire von Krimikomödien entlehnt, und ähnlichen Genremustern lässt der 59jährige Franzose, der zu seinem siebten Spielfilm wie gewohnt selbst das Drehbuch verfasst hat, auch die Darstellung des Handlungsortes folgen. Auf den Straßen des südfranzösischen Dorfes ist fast nie jemand zu sehen, aber kaum eine Heimlichkeit bleibt unbeobachtet. Panoramaaufnahmen, in denen Laub in schönsten Herbstfarben erstrahlt, machen indes bewusst, dass das Kaff von ausgedehnten Wäldern umgeben ist. Entsprechend lustig wirkt, dass Jérémie bei keinem Waldspaziergang allein bleibt, sondern im Gehölz stets unerwartet auf Vincent, die Polizei, den örtlichen Pfarrer oder gleich mehrere Genannte trifft. Das weckt Erinnerungen an »Immer Ärger mit Harry«, wobei in »Misericordia« aber, anders als im Hitchcock-Film von 1955, tatsächlich ein Verbrechen (und nicht einfach nur ein lästiger Leichnam) im Zentrum der mäandernden Handlung steht.

Dass dieser Film sehr amüsant ist, ergibt sich freilich nicht aus bloßer Lust am Makabren und schon gar nicht aus mangelndem Ernst gegenüber dem gewählten Gegenstand. Zwar mag befremden, wie nachrangig Guiraudie einen Gewaltausbruch behandelt, doch die dramaturgische Gewichtung folgt durchaus logisch aus der eingangs erwähnten Macht, die der Filmemacher offenbar selbst dem Begehren zumisst – inklusive aller kuriosen und amoralischen Konsequenzen.

In groben Zügen variiert der 59jährige französische Filmemacher die Konstellationen seines vorangegangenen Films, der herrlich launigen Sexfarce »Nobody’s Hero« von 2022, sowie des meisterlichen Erotikthrillers »Der Fremde am See«, mit dem er 2013 international bekannt wurde. Da der Plot des einen Films um Prostitution kreiste und der andere an einem Nacktbadestrand angesiedelt war, der Schwulen zum »Cruising« diente, war der Fokus dort jeweils aufs Körperliche gerichtet. Dagegen ist Nacktheit in »Misericordia« so selten, dass ein halb erigierter Penis sogleich als beiläufiger Gag wirkt. Weil rasendes Begehren hier keine Erfüllung findet, schillert es jedoch in um so reizvollerer Unbestimmtheit.

Aus einem einzigen Dialog mit Martine ist zu schließen, dass Jérémie sich in Jean-Pierre verliebte, als er bei ihm in die Lehre ging. Der kurze Wortwechsel deutet zugleich an, dass der Bäckermeister diese ungebrochene Liebe nie ahnte – im Gegensatz zu seiner Ehefrau. Erst recht unklar bleibt derweil, inwieweit die Freundschaft und Rivalität, die den Protagonisten in Jugendjahren mit Vincent und Walter verband, eine physische Komponente enthielt. Unter solch vieldeutigen Vorzeichen scheint jede Spielart des Begehrens denkbar – weshalb es womöglich ganz unironisch gemeint ist, wenn schließlich jemand beteuert, die Objektwahl erotischer Liebe sei ebenso unbegrenzt erlernbar wie die der christlichen Nächstenliebe.

»Misericordia«, Regie: Alain Guiraudie, Frankreich/Portugal/Spanien 2024, 104 Min., bereits angelaufen

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