Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Stroh

Von Helmut Höge
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In den 70er Jahren zogen in Westdeutschland etliche Linke aufs Land, so auch ich – in eine Landkommune. Weil dort in landwirtschaftlicher Hinsicht alles anders gemacht werden sollte, kam bei mir der Wunsch auf, erst einmal die normale (moderne) Landwirtschaft kennenzulernen. Dazu arbeitete ich bei diversen Mittelbauern als Betriebshelfer. Sie hatten im Durchschnitt alle etwa 100 Hektar und Milchvieh. Danach wollte ich auch noch die sozialistische Landwirtschaft kennenlernen und bewarb mich vergeblich in drei Botschaften von sozialistischen Ländern. Aber einige Jahre später »fiel die Mauer« und meine Freundin und ich stellten uns im November 1989 bei einer LPG Tierproduktion in Saarmund vor. Am 1. Dezember fingen wir als Rinderpfleger im Nachbardorf an, wo die Brigade für Kälber, Färsen, Jungbullen und etwa 60 Schweine zuständig war. Jeden Morgen um fünf fuhren wir mit unserem alten Audi aus Kreuzberg los und zogen in der LPG Blaumann und Stiefel an, die man uns zugeteilt hatte. Die Brigade bestand aus zehn Leuten, und wir arbeiteten uns nicht tot. So oft es ging, saßen wir im Sozialraum, tranken Kaffee und diskutierten die Zeitläufte.

Das hielten wir bis zu den Märzwahlen 1990 durch, aber theoretisch beschäftige ich mich auch weiterhin mit Landwirtschaft. In diesem Zusammenhang stieß ich auf den Politologen James C. Scott. Der war Leiter des Programms für Agrarstudien an der Yale-Universität und betrieb nebenbei in Durham, Connecticut eine kleine Landwirtschaft. Ein Buch von ihm, das mich sofort begeisterte, heißt auf Deutsch »Die Kunst, nicht regiert zu werden« (Yale University Press, 2009) und ist eine »Anarchistische Geschichte der kleinen Völker im Hochland von Südostasien«. Von seinen zahlreichen Büchern sind bislang nur übersetzt »Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten« (»Against the Grain«, 2019/2017) und »Applaus dem Anarchismus« (»Two Cheers for Anarchism«, 2014/2012)

Gleich im ersten »Applaus«-Kapitel berichtet Scott, dass er im Spätsommer 1990 sechs Wochen in einer LPG bei Neubrandenburg arbeitete. Er hatte ein Stipendium am Westberliner Wissenschaftskolleg und um vorab sein Deutsch zu verbessern, kam er auf die Idee, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Ein Freund von ihm hatte einen Schwager, der Leiter einer LPG in Pletz war und ihm dort Arbeit sowie Kost und Logis verschaffte. Die LPG-Mitarbeiter begegneten ihm jedoch mit so großem Misstrauen, dass die Arbeit für ihn »zum Alptraum« wurde. Man vermutete, er sollte bei ihnen im Dienst niederländischer Investoren oder des neuen Staates (der Treuhand?) spionieren.

Die LPG war auf den Anbau von »Stärkekartoffeln« spezialisiert, die als »Stärkebasis für osteuropäische Kosmetika« dienten. Für diese war jedoch der Markt zusammengebrochen und so verrotteten die Kartoffeln neben den Bahngleisen. Die LPG-Mitarbeiter fragten sich, ob nicht alle »das blanke Elend erwartete« und welche Rolle Scott dabei womöglich spielte. Außerdem, ob seine »schwächlichen Deutschkenntnisse« nicht die Arbeitsabläufe gefährden könnten? »Würde ich die Schweine zum falschen Tor hinauslassen, so dass sie auf das Feld eines Nachbarn gerieten? Würde ich den Gänsen das Futter geben, das für die Bullen gedacht war? Würde ich immer daran denken, das Tor zu schließen, wenn ich in der Scheune arbeitete … Ich hatte ihnen, das ist wahr, in der ersten Woche mehr als genügend Grund zur Beunruhigung gegeben.«

Das war bei meiner Freundin und mir in der LPG nicht der Fall – im Gegenteil. In »unserer« Brigade herrschte ein arbeiterliches, kein bäuerliches Bewusstsein. Wenn ich z. B. die Stallgasse bei den Färsen allzu sauber fegte, sagte mein Kollege Bernd: »Mach es nicht zu ordentlich, sonst stecken die da oben sich das an den Hut.« Oder wenn ich am Tor, an dem der Traktorfahrer ein Stück Putz weggerissen hatte, meinem Kollegen Michael vorschlug, dass wir das doch nebenbei wieder verputzen könnten, sagte der: »Das muss die Maurerbrigade machen.« Ich entgegnete, dass er als Maurer doch wüsste, dass diese Brigade aufgelöst wurde. Woraufhin er nur sagte: »Da müssen die da oben sich einen Kopp drüber machen.« Umgekehrt wollte es mir nicht in den Kopp, dass der Traktorfahrer Jens uns vergammeltes Stroh zum Einstreuen brachte. Damit würden die Tiere schon nach zehn Minuten wieder im Mist stehen. »Ja, aber nasses Stroh lässt sich leichter mit dem Traktor ausmisten«, meinte er.

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