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Aus: Ausgabe vom 11.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Nahost

Friendly fire

Teile von BDS bekämpfen den israelkritischen Dokumentarfilm »No Other Land«. Was soll das?
Von Peter Merg
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Gemeinsam auf die Weltbühne: Die Filmemacher Basel Adra (l.) und Yuval Abraham

Eine stumpfe Axt macht die meisten Splitter, weiß der Volksmund. Das illustriert der jüngste, reichlich absurde Konflikt um den Dokumentarfilm »No Other Land«. Wer in den letzten zwölf Monaten nicht unter einem Stein gelebt und zumindest ab und an in ein Feuilleton geblickt hat, weiß: Der behandelt die anhaltende Vertreibung von Palästinensern durch israelisches Militär und radikale Siedler im Westjordanland und wurde gerade mit einem Oscar prämiert. Schon voriges Jahr wurde der intensive, unbedingt sehenswerte Film auf der Berlinale ausgezeichnet. Weil Basel Adra und Yuval Abraham vom vierköpfigen palästinensisch-iraelischen Regiekollektiv bei der Preisgala dazu aufriefen, das Schlachten in Gaza, Waffenlieferungen an Israel, Besatzung und Ungleichbehandlung zu beenden und dabei das Wort »Apartheid« fiel, sprang halb Deutschland wochenlang wegen angeblichen Antisemitismus im Dreieck, Sie erinnern sich.

Nun bekam sie also eine Weltbühne, diese so wichtige Produktion, die den Blick auf die fortwährende, brutale, aber für die internationale Öffentlichkeit offenbar lange noch immer zu subtile Verjagung palästinensischer Familien aus ihren Dörfern in der Westbank richtet – dass das nicht nicht jedem gefallen würde, war klar. Der israelische Kulturminister Miki Zohar hatte seinen Tweet (»Diffamierung Israels«, »Sabotage gegen den Staat«, »keine Kunst«) wahrscheinlich bereits Wochen vor der Preisverleihung formulieren lassen.

Dass es aber auch einen harten Backlash aus den eigenen Reihen geben würde, war eine Überraschung. Zumindest für Leute, die um die eklatanten Widersprüche der Israel-Boykottbewegung BDS nicht wissen. Denn am 5. März veröffentlichte die einflussreiche Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI) eine Stellungnahme zu »No Other Land«, die den Film verurteilt. Nicht, weil er Falsches zeige, sondern weil er die PACBI-»Anti-normalization rules« verletzte, eine Art ideologischer Reinheitstest für ernstzunehmende Israelkritik, den die 2004 von palästinensischen Intellektuellen in Ramallah gestartete Kampagne entwickelt hat. Um die israelische Unterdrückung der Palästinenser nicht zu »normalisieren«, muss demnach die israelische Seite eines gemeinsamen Projekts ihre »Ablehnung der Besatzung und Apartheid« bekräftigen, das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Vertriebenen anerkennen, und es muss sich um »eine Form des gemeinsamen Widerstands gegen das israelische Regime« handeln.

Verwerflich für die Regelhüter also war, dass die Filmemacher bei diversen Gelegenheiten auch das Massaker, das palästinensische Militante unter Führung der Hamas am 7. Oktober 2023 an Zivilisten verübten, als »Verbrechen« bezeichneten (»falsche Gleichsetzung von Kolonisierten und Kolonisator«) und die Freilassung der israelischen Geiseln forderten. Zudem sei die Dokumentation mit Hilfe der Organisation »Close-up« entstanden, die irgendwann einmal Geld von israelischen Regierungsstellen bekommen haben soll. Zuletzt: Israel werde nicht klar genug als Täter benannt.

Zur Erinnerung: Die Dokumentation zeigt, wie die Ortschaften von Masafer Yatta immer wieder von der Besatzungsmacht heimgesucht werden, 2022 fiel das finale Urteil eines israelischen Gerichts, dass die 19 Dörfer geräumt werden sollen. Häuser werden abgerissen, Schulen demoliert, Wasserrohre gekappt. Am Beispiel des Palästinensers Basel Adra und des jüdischen Israelis Yuval Abraham wird zugleich gezeigt, wie der Widerstand gegen die Vertreibung nicht nachlässt. Wenige israelische Aktivisten stellen sich an die Seite der Dorfbewohner, eine schwierige, konfliktreiche Kooperation entsteht, um den Übergriffen zu ­trotzen.

Nicht erst die offenkundig unsinnige Vorhaltung, hier werde das Täter-Opfer-Verhältnis nicht klar benannt, nährt den Verdacht, es gehe den PACBI-­Aktivisten um den Umstand, dass überhaupt Israelis in das Filmprojekt involviert waren. Natürlich ist es rassistisch, dass der palästinensischen Perspektive im globalen Westen oft erst dann größere Beachtung zuteil wird, wenn sie durch einen jüdischen Partner legitimiert wird. Doch bekämpft man diese Struktur effektiv, indem man um der Reinheit der Sprecherposition willen lieber auf diese Öffentlichkeit verzichtet? Als Sacheen Littlefeather 1973 im Namen Marlon Brandos die Annahme dessen Oscars ablehnte und auf die Besetzung von Wounded Knee aufmerksam machte – hätte das American Indian Movement auf diese Bühne verzichten sollen, weil der weiße Amerikaner Brando sie ihnen bot?

Die unmittelbar von den im Film gezeigten Verbrechen Betroffenen sind offenbar nicht dieser Meinung. Gegenüber dem propalästinensischen Onlinemagazin +972 erklärte der Vorsitzende des Rates von Masafer Yatta, Nidal Younis, er respektiere die Kritik, doch der Film sei »ein lauter Schrei gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit« und dürfe nicht boykottiert werden. »Yuval ist ein echter Partner, ebenso wie all die internationalen und jüdischen Aktivisten, die in Masafer Yatta schlafen und uns vor Angriffen der Siedler und der Armee schützen.«

Deutlicher noch wurde Jihad Al-Nawaja, Vorsitzender des Dorfrats in Susiya, der +972 sagt: »Ich schwöre Ihnen, dass ich nach vielen Jahren des Kampfes, der Konfrontationen, Verhaftungen, Schläge und Zerstörungen weiß – nicht denke, sondern weiß –, dass ohne Menschen wie Yuval und jüdische Aktivisten aus Israel und der ganzen Welt die Hälfte des Landes von Masafer Yatta inzwischen konfisziert und zerstört worden wäre. Dass wir hier standhaft bleiben, verdanken wir ihrer Hilfe.« Und: »Ich lade alle Kritiker ein, ihre Klimaanlagen auszuschalten, sich in ein Auto zu setzen und eine Woche lang mit uns hier zu leben. Dann werden wir sehen, ob sie mich immer noch zum Boykott des Films aufrufen.« Der Aktivist Tariq Hathaleen aus Umm Al-Khair erkennt Elemente eines Klassenkonflikts: »Die Palästinenser in der Diaspora leben, obwohl sie die dritte Generation nach der Nakba sind, mit den Privilegien, die ihnen die westlichen Länder gewähren. Sie sind gebildet und mehrsprachig. Daneben gibt es wohlhabende Intellektuelle in den großen Städten des Westjordanlandes, die glauben zu wissen, was der palästinensische Kampf braucht. Und dann, mit diesem Film, hat es plötzlich eine Gruppe einfacher Leute – Bauern und Hirten, Studenten und Arbeiter – geschafft, mit einem einzigen Dokumentarfilm die Weltbühne zu erreichen. Glauben Sie mir, wenn einer von ihnen den Film initiiert und daran gearbeitet hätte, hätten wir diese Stimmen nicht gehört, und wir würden seine Vorführung in Ramallah feiern.«

Das PACBI-Papier ist nur das jüngste Beispiel, welch verderbliche Folgen für konkreten Widerstand ein entkernter Antikolonialismus zeitigt, der antiuniversalistisch ausgehöhlt zu einem identitätspolitisch verengten Postkolonialismus degeneriert. Wer selbst einen israelische Verbrechen anprangernden Film wie »No Other Land« bekämpft, der den bedrängten Palästinensern eine Sichtbarkeit bringt wie sonst kaum ein anderes Werk der jüngeren Vergangenheit und damit Bewusstsein für eine Friedenslösung schafft, der will eine solche vielleicht gar nicht. Eine durch kollektivierende Feinderklärung bestimmte Ausschlusslogik, wie sie die PACBI demonstriert, stellt eine internationalistische Palästina-Solidarität in genau die Ecke, in die sie die Miki Zohars und Felix Kleins drängen wollen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Jan R. aus Berlin (11. März 2025 um 14:33 Uhr)
    Die PACBI »verurteilt« den Film nicht. Warum schreibt Peter Merg sowas? Die Stellungnahme von PACBI erklärt klar und einfach, basiert auf Grundsätzen die von Palästinensern selber formuliert wurden, warum Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen sehr strenge Kriterien aufgelegt werden. Und dass einige dieser Punkte verletzt seien. Was nicht heißt, dass PACBI oder BDS zum Boykott des Films ausrufen! Im Gegenteil: gleich am Anfang der Stellungnahme wird die Wichtigkeit des Films betont.
  • Leserbrief von Manfred Kern aus Schwetzingen (11. März 2025 um 00:30 Uhr)
    Sehr guter Artikel, vielen Dank!

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