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Aus: Ausgabe vom 15.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Schießen Sie auf den Pianisten

Wie Keith Jarrett dank der Zahnarzttochter zu seinem Konzert kam: Ido Fluks Spielfilm »Köln 75«
Von Maximilian Schäffer
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Junge Menschen wurden greise, wenn Keith Jarrett klimperte: Mala Emde als Vera Brandes

Eine weitere Musikerhuldigung im Kino, der nächste Ikonenkuss. Diesmal für den Jazzpianisten Keith Jarrett und die Konzertveranstalterin Vera Brandes. Bedeutungsschwangerschaft mindestens im neunten Monat gleich zu Beginn: ein Disclaimer, der den Klavierspieler mit Michelangelo vergleicht. Hätte man den einst in der Sixtinischen Kapelle malen sehen, so wäre das mit der bloßen Sichtung des Werks unvergleichbar – dies sei ein Film lediglich über das Gerüst eines Meisterstücks. Notwendig ist dieses Geschwafel, weil Keith Jarrett nichts mit diesem Film zu tun haben möchte und die Verwendung seiner Musik untersagt hat.

»Köln 75« erzählt eine Geschichte um das meistverkaufte Jazz-Soloalbum sowie meistverkaufte Klaviersoloalbum aller Zeiten. »The Köln Concert«, am 24. Januar 1975 aufgenommen von Martin Wieland in der Kölner Oper. Erschienen als Doppel-LP mit weißem Cover bei ECM Records aus Gräfelfing, produziert von dessen Mitgründer Manfred Eicher, der Jarrett in diesen Jahren mit seinem Renault R4 durch Europa kutschierte. An die vier Millionen Mal dürften diese 66 Minuten Improvisation sich bisher verkauft haben. Jarrett stöhnt privatesoterisch zu seinen zuckersüßen Aufzugsmelodien – wer kennt es nicht? Ist das noch Jazz? Im Film wird dies bestritten – es sei einfach nur großartig, virtuos.

Wie immer bei solchen Tributen geht es also um die Singularität eines einzelnen Genies, um Zeitgeist und Selbstermächtigung unter widrigen Umständen. Das geht auf der einen Seite so: Die 19jährige Zahnarzttochter Vera Brandes hat genug vom Nachkriegsmuff um sie herum. Da ist der herrschsüchtige Patriarch, ihr Vater (Ulrich Tukur), der ihr das Leben vorschreiben will. Faul ist die Jugendliche ganz bestimmt nicht, im Gegenteil, sie finanziert sich bereits eine eigene Wohnung durch die Organisation von Jazzkonzerten. Unterhält zudem einige freie Liebhaber und wird von der Bild als »Jazzhase« pornographisiert. Gespielt wird Brandes von der 28jährigen Mala Emde, reichlich angestrengt und leicht drüber. Auf der anderen Seite also Keith Jarrett, den John Magaro als reinen Kauz gibt. Übel gelaunt und egozentrisch sitzt er mit quälenden Rückenschmerzen im Renault. Sidekicks sind bereits erwähnter Manfred Eicher (Alexander Scheer) und der fiktive Musikkritiker Michael Watts (Michael Chernus). Letzterer durchbricht die vierte Wand und wendet sich dem Zuschauer mit allem zu, was schlechten Journalismus ausmacht (man in Zeiten des wirtschaftsnahen Hobbykommentars aber für guten hält): Heldenverehrung und Speichelleckerei.

»Köln 75« ist eine deutsch-polnisch-belgische Produktion mit israelischem Regisseur, Ido Fluk, ein bisher weitgehend Unbekannter. Er hat seinen Film in zwei doch recht unterschiedliche Gewänder gekleidet. Während Brandes’ Selbstermächtigung als leichte deutsche Fernsehfilmklamotte daherkommt, wirken die Szenen mit dem Kritiker und dem Meisterklimperer eher wie internationales Streamingkino. Diese Schizophrenie tut den 110 Minuten gar nicht so schlecht, halten sie doch auch alle bei Laune, die endgültig von dieser Art Erzählungen die Schnauze voll haben. Coming-of-Age und Musikerbiographie sind wohl so ziemlich die abgenutztesten Genres der letzten zehn Jahre Kino.

Dem Mythos zufolge stand ein falscher Bösendorfer im Kölner Opernhaus. Der chauvinistische Intendant hat’s verbrochen, das zarte Mädel zu schikanieren. Statt dem versprochenen »290 Imperial« nur ein verstimmter Stützflügel mit klemmenden Pedalen (neuere Aussagen widerlegen dies teilweise; so war der 225-Halbkonzertflügel laut Firma Bösendorfer in gutem Zustand). Was also tun? Michelangelo kann nicht mit Wachsmalkreiden kritzeln. Das Opernhaus hat 10.000 Mark Vorschuss gekostet, bei Misslingen muss die Bürgerstochter Zahnärztin werden. Alle plagt der Rücken. Alle sind übermüdet und schlecht gelaunt. Wird überhaupt jemand kommen? Natürlich geht am Ende alles gut, und alle gehen in die Annalen ein, klar.

»Köln 75«, Regie: Ido Fluk, BRD/Polen/Belgien 2025, 112 Min., bereits angelaufen

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