Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 18.03.2025, Seite 3 / Inland
Aktionstag der IG Metall

Fünf vor zwölf

Bundesweit 81.000 Beschäftigte bei gewerkschaftlichem Aktionstag für die Zukunft ihrer Arbeitsplätze auf der Straße
Von Yaro Allisat, Leipzig
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In Köln sind mehr als 20.000 Beschäftigte dem Aufruf der IG Metall gefolgt (15.3.2025)

Um fünf vor zwölf schlugen die Industriearbeiter symbolisch Alarm. In fünf Städten folgten am vergangenen Sonnabend zeitgleich rund 81.000 Menschen einem Aufruf zum Aktionstag der IG Metall (IGM), der IG Bergbau, Chemie, Energie und des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) unter dem Motto: »Mein Arbeitsplatz. Unser Industrieland. Unsere Zukunft!« Die hiesige Industrie befinde sich in einer »dramatischen Lage«, die Arbeiter unter Druck setze, warnte die IGM. CDU/CSU und SPD, Regierungskoalition in spe, sollen sich zu einem modernen Industriestandort BRD und einem »starken Sozialstaat mit guten und sicheren Arbeitsplätzen« bekennen. Im Nachgang sprach die IGM von ihrer größten Aktion seit Jahrzehnten.

Allein auf dem Augustusplatz in Leipzig demonstrierten 12.000 Menschen. Unter ihnen protestierte Nelson M., Projektmanager bei Rolls-Royce und stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats, der extra aus Berlin angereist war. Ihn sorge der Stellenabbau in der Automobilbranche. Der Joberhalt sei zentral, selbst wenn er Lohneinbußen erfordere. »Machen wir uns nichts vor: Bei VW verdient man gut«, so Nelson gegenüber jW. Die Konzerne sollten mehr kooperieren, »haben aber auch ihre Schmerzgrenzen«. VW hatte im November mit massiven Stellenstreichungen und Standortschließungen gedroht. Hunderttausende VW-Beschäftigte streikten, woraufhin IGM und VW vereinbarten, zum Preis von sechs Nullrundenjahren nur 35.000 Stellen zu kürzen. Die Absatzprobleme in China oder bei E-Autos hierzulande wird der Kahlschlag bei den Beschäftigten aber nicht lösen. 4,5 Milliarden Euro hat VW vergangenen Juni an seine Aktionäre ausgeschüttet. Die vom VW-Vorstand in den Verhandlungen noch geforderten Lohnsenkungen hätten lediglich zwei Milliarden gespart.

Bundesweit setzt die Kapitalseite die Beschäftigten unter Druck. Allein in 169 Klein- und Großbetrieben der Metall- und Elektroindustrie sei ein Stellenabbau bereits geplant, in 169 weiteren von der Geschäftsführung gefordert worden, ergab eine IGM-Befragung in insgesamt 1.286 Betrieben. Im Kampf um Arbeitsplätze wird indes zur Not über Leichen gegangen, auf das Geschäft mit dem Tod umgeschwenkt. Als der Rüstungskonzern KNDS im Januar das Waggonwerk von Alstom in Görlitz übernommen hatte, um dort Panzer zu fertigen, applaudierte die IGM. Schon vor zwei Jahren hatte sie Waffenlieferungen an die Ukraine im Rahmen eines Antrags an den DGB zugestimmt. Die IGM geht in dieser Frage immer mehr Hand in Hand mit dem deutschen Kapital. Tatsächliche und gefühlte Krisen liefern die Rechtfertigung: Besser schlecht bezahlte und schmutzige Arbeit als gar keine.

Also Produktion für den Krieg? In diesem Bereich würden die Gewinne gemacht, »die Aktien gehen nach oben«, führt Nelson aus. Das stimmt. Zuletzt hat Rheinmetall mit einer Verzehnfachung des Gewinns seit Beginn des Ukraine-Kriegs Schlagzeilen gemacht. Auch Ilona K. aus Eisenhüttenstadt in Brandenburg, einem Ort, der von der Stahlindustrie lebt, würde zur Not für die Rüstung produzieren, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe. Sie begründet das gleichsam mit Angst vor dem Stellenabbau. Bei geringeren Löhnen ist sie jedoch skeptisch. »Grundsätzlich« ginge das, »aber aktuell reicht das Geld schon kaum, um Miete, Strom und Essen zu bezahlen«. Inflation und Grundsicherung sind ebenso zentrale Themen der IGM. Stürmisch wurde applaudiert, wenn es auf der Bühne in Leipzig um Grundsicherung und eine »Politik für die Menschen in diesem Land« geht.

Im Osten reagiert man besonders sensibel auf die geplanten Stellenstreichungen in der Industrie. An vielen Orten sind die großen Werke die zentralen Lohnquellen der Region, so VW in Zwickau, die LEAG in der Lausitz oder das Tesla-Werk in Grünheide. Kürzungen im Industriebereich treffen die ostdeutschen Arbeiter somit ungleich härter. Die IGM begrüßt das Sonderschuldenpaket der Bundesregierung für die Infrastruktur. Dabei ist es nur ein minimaler Ausgleich dessen, was über Jahre versäumt wurde – zumal das Geld in genau jene Infrastrukturen gehen wird, denen seitens der Politik abverlangt wird, kriegstüchtig zu werden, wie Straßen oder Krankenhäuser.

Hintergrund: Gewerkschaftliche »Zeitenwende«

»Mein Arbeitsplatz. Unser Industrieland. Unsere Zukunft!« Mit dieser Parole mobilisierte die IG Metall (IGM) bundesweit zu fünf zentralen Demonstrationen. Eine gleichnamige Petition, die sich an »die künftige Bundesregierung und die Arbeitgeber« richtet, listet drei zentrale Forderungen auf: erstens, »Industriearbeitsplätze müssen gesichert werden«; zweitens, »die Kosten fair verteilen«; drittens, »Sicherheit für alle«.

Sie sind genau wie die Argumente hinlänglich bekannt: Da nur »eine starke Industrie« Wohlstand schaffe, müsse in selbige investiert werden, und zwar dauerhaft nach sozial-ökologischen Kriterien, wofür der Staat mehr Kredit und Steuergeld, insbesondere von Reichen, mobilisieren soll. Andernfalls ginge der »gesellschaftliche Zusammenhalt« in die Binsen. Nichts spricht gegen die Unterstützung dieser Position, nur stimmen einige offenkundige Widersprüche nachdenklich.

Wie die IGM im Nachgang der Demo schrieb, setzen Kapitalisten »weiter auf alte Reflexe: Stellen abbauen, kürzen und verlagern«, obwohl »genau das Gegenteil« nötig wäre, nämlich »Innovation und Wachstum«. Letztere führt das Kapital gleichsam an, um Kürzungen zu begründen, wenn es durch künstliche Intelligenz ganze Berufsgruppen überflüssig macht. Die Interessen von Kapital und Arbeit sind trotz Sozialpartnerschaft, Komanagement und Gewinnbeteiligung entgegengesetzt. Das ignoriert die IGM geflissentlich, wenn sie versucht, ein Kollektiv namens »Wir« zu konstruieren, das einen gemeinsamen Topf namens »unser Wohlstand« verwaltet.

Denselben Fehler spiegelt die Haltung wider, die die IGM gegenüber dem Staat einnimmt. Durch den Beschluss eines »großen Investitionspakets« allein sei »noch kein Problem gelöst«. Tatsächlich fehlt von den sozial-ökologischen Kriterien jede Spur. Sicher ist dagegen, dass aufgerüstet wird und – nimmt man die Regierungsanwärter beim Wort – dass die Lohnabhängigen dafür alsbald ihren Tribut zollen werden. Von einem »Weckruf«, der nun, wie die IGM meint, »endlich in Berlin angekommen« sei, kann also keine Rede sein. Eher von Widersprüchen, die im nationalen Taumel untergehen.

Die IGM nennt ihre Petition, die obendrein reichlich unkonkret bleibt, ein »Zukunftsprogramm für die deutsche Wirtschaft«. Würde sich daran orientiert, »bleiben Jobs in der Industrie erhalten«, hätten »die Beschäftigten und ihre Familien eine Zukunft«. Das ist wiederum ureigenstes Interesse nicht nur der Metaller, sondern der arbeitenden Klasse insgesamt, die, einmal auf ein »Wir« eingeschworen, ihren Wohlstand den Kapitalisten und Beamten abtrotzen könnte. Mehr Klassenbewusstsein und -kampf wären angezeigt. (nu)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas B. aus Berlin (18. März 2025 um 07:44 Uhr)
    Mitten in den noch laufenden Verhandlungen zu den kommenden, nicht mehr gedeckelten Kriegskrediten 2.0 biedern sich IG Metall und IGBCE an ihrem »Aktionstag« am 15. März burgfriedenslinientreu mit der Bitte um eine nationale, standortsichernde neue »Industriepolitik« bei der zukünftigen Kriegsregierung Merz an. Dabei verkennen sie scheuklappenblind, dass es keine Kredit- und Steuerfinanzierte »Industriepolitik« gibt, die nicht zulasten der arbeitenden Menschen und unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen auf abhängige Beschäftigung Angewiesenen gibt. Und es ist nicht einmal ironisch gemeint, darauf hinzuweisen, dass »Standort« in der Ursprungsbedeutung eine militärische Bezeichnung ist für einen Ort, an dem Truppenteile, militärische Dienststellen und ähnliches ständig untergebracht sind. Die historische Erfahrung lehrt: Der Kniefall der organisierten Arbeiter*innenbewegung vor dem Militärisch Industriellen Komplex führt direkt vom Standort in den Unterstand; erst in den Schützengraben und dann ins Massengrab! Dieser kapitulantenhaften, standpunktlosen, anbiedernden und durch keinen (!) Beschluss der Organisation gedeckten Positionierung der Gewerkschaftsführung muss die gewerkschaftliche Gegenwehr der Mitgliedschaft im Kampf um Frieden, soziale Sicherung, gegen die weitere Vernutzung unserer Mitwelt und für gute (!) Arbeit gelten. Damit wird ausdrücklich nicht die schwierige Situation der jeweils von der Drohung mit Jobverlust betroffenen Kolleg*innen übersehen – im Gegenteil. Gewerkschaftliche Interessenvertretung bedeutet den Kampf für Rüstungskonversion, für die sozial-ökologische Transformation, gegen die behauptete »Neutralität« der Marktnachfrage und die Verfügungsmacht und das Alleinbestimmungsrecht der Kapitaleigner über die Produktpolitik; ganz im besten Sinne des im Artikel 9, Absatz 3 Grundgesetz garantierten Koalitionsrechts, des Rechts, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – bis zum politischen Massenstreik.