Rentner auf den Barrikaden
Von Frederic Schnatterer
Im Gegensatz zur Vorwoche blieb es letztlich ruhig. Zehntausende versammelten sich am Mittwoch (Ortszeit) im Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, um gegen die ultrarechte Regierung von Javier Milei und für höhere Mindestrenten zu demonstrieren. Rentner und linke Organisationen sowie Gewerkschaften gaben den Ton an und sorgten für einen geordneten Aufmarsch. In sogenannten Barras Bravas organisierte Fußballfans blieben indes, anders als eine Woche zuvor, eher am Rand des Geschehens.
Vor der Demonstration hatten die Regierung und insbesondere »Sicherheitsministerin« Patricia Bullrich ein Bedrohungsszenario heraufbeschworen, die Straßenzüge um das von einem Metallwall abgeschirmte Kongressgebäude erinnerten an ein Bürgerkriegsgebiet. Mehr als 2.000 Einsatzkräfte waren im Einsatz, gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer fuhren durch das Zentrum von Buenos Aires, dort kam der Verkehr zum Erliegen. Personen, die in die Nähe des Kundgebungsortes wollten, wurden rigoros kontrolliert, ebenso wie Pendler aus den traditionell linken Arbeitervororten Matanza und Lomas de Zamora. Über die Anzeigetafeln der Bahnhöfe flimmerte die Warnung: »Gewalt ist kein Protest. Die Polizei wird jeglichen Angriff auf die Republik unterbinden.« Aus Lautsprechern wurde die Drohung wiederholt.
Doch weder die aufgebaute Drohkulisse noch die Repressionserfahrung der Vorwoche schüchterten die Argentinier ein, die in Massen vor das Kongressgebäude zogen. Schon am Mittwoch der vergangenen Woche hatte die ultrarechte Regierung gezeigt, dass der von Präsident Milei propagierte »Anarchokapitalismus« eine gehörige Portion Autoritarismus beinhaltet. Bei der Demonstration von Rentnern und ihren Unterstützern aus linken Organisationen, Gewerkschaften und aus dem Umfeld von Fußballfans kam es im Zentrum der argentinischen Hauptstadt zu brutaler Repression durch die Einsatzkräfte: Knüppel, Tränengas und Gummischrot – ohne Rücksicht auf Menschenleben.
Die Proteste der Rentner sieht die Regierung mittlerweile als offene Herausforderung an. Seit Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 ziehen die Pensionäre jeden Mittwoch vor das Kongressgebäude im Zentrum von Buenos Aires, um gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und den brutalen Kürzungskurs zu demonstrieren. Während die Kundgebungen zuvor eher klein ausgefallen waren, folgten am 12. März Zehntausende dem Aufruf. Angeschlossen hatten sich linke Organisationen, aber auch die Barras Bravas genannten Fangruppen vieler Fußballvereine – was eine deutlich erhöhte Mobilisierungsfähigkeit mit sich brachte.
Dass die Regierung ihre autoritäre Reaktion als Machtdemonstration verstanden wissen will, macht besonders Bullrich deutlich, die seit dem Massenprotest öffentlich zumeist im olivgrünen Jackett auftritt. Nicht nur ihr Aussehen, auch ihre Aussagen muten militärisch an. Bei der Vorstellung eines Gesetzes zur Bekämpfung von Gewalt im Fußballkontext (Ley Antibarras) verteidigte sie am Montag das brutale Vorgehen der Polizeikräfte gegen die Demonstranten, die sie zuvor eines »versuchten Staatsstreichs« bezichtigt hatte. Dass sie dafür die volle Rückendeckung von Präsident Milei hat, hatte dieser bei der Eröffnung der Landwirtschaftsmesse Expoagro am Freitag deutlich gemacht. Dort dankte er seiner Ministerin »für ihre großartige Arbeit«. Bullrich, so Milei weiter, halte »die Werte der Republik hoch« und verteidige diese.
Ebenso wenig wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Protest gehört für die ultrarechte Regierung der Parlamentarismus zum republikanischen Wesen Argentiniens. Milei regiert, wo immer es geht, per Eil- und Notdekreten (Decreto de necesidad y urgencia, DNU) – eine Reaktion darauf, dass er weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus über eine eigene, stabile Mehrheit verfügt. Insgesamt unterzeichnete der Staatschef bis dato 62 DNU, von denen einige in der Folge vom Obersten Gerichtshof wieder kassiert wurden. Zwar müssen die Dekrete im Laufe der Zeit ratifiziert werden, allerdings reicht es aus, wenn nur eine der beiden Parlamentskammern zustimmt.
Während am Mittwoch vor dem Kongressgebäude Tausende für die Belange der Rentner auf die Straße gingen, stimmte im Inneren eine Mehrheit der Abgeordneten für ein Dekret von Milei, das ihn ermächtigt, ein neues Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufzusetzen. Eigentlich schreibt ein Gesetz von 2021 vor, dass eine Neuverschuldung beim IWF von beiden Parlamentskammern ratifiziert werden muss. Entsprechend kritisierte der ehemalige Wirtschaftsminister Martín Guzmán, die Regierung umgehe das Parlament, »weil sie nicht vor dem Volk diskutieren möchte«. Andere warnten, die »demokratische Stabilität« und die »institutionelle Ordnung« seien in Gefahr.
Wie der IWF-Deal aussehen wird, ist indes weiter unklar. Einzelheiten verweigern Wirtschaftsminister Luis Caputo und andere Mitglieder der Regierung bislang. Allerdings muss Argentinien allein in diesem Jahr 15 Milliarden US-Dollar an die Washingtoner Finanzinstitution zurückzahlen. Insgesamt hat das Land bereits 22 Abkommen mit dem IWF geschlossen, allein der Kredit von 2018 war mit rund 45 Milliarden Dollar der größte in der Geschichte des Fonds.
Kritiker vermuten, dass Milei mit einem neuen Kredit vor allem bessere Ausgangsbedingungen für seine Partei La Libertad Avanza (LLA) bei den in diesem Jahr anstehenden Wahlen schaffen möchte. Ende Oktober wird je die Hälfte der Sitze des Senats und des Abgeordnetenhauses neu bestimmt. Zuletzt sanken die Zustimmungswerte für den Präsidenten erheblich. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Atlas Intel erklärte erstmals eine knappe Mehrheit der Befragten, dass sie die amtierende Regierung ablehne.
Hintergrund: Welle des Widerstands
Das zunehmend autoritäre Gebaren von Präsident Javier Milei ist die Reaktion darauf, dass sein politischer Kurs vermehrt auf Widerstand stößt. Diesen versucht die argentinische Regierung zu ersticken, bevor er ihr gefährlich werden könnte – wobei sie auf die Komplizenschaft aller Teile der herrschenden Klasse und ihrer Helfer in Medien und Justiz setzen kann.
Nachdem es im vergangenen Jahr – dem ersten Amtsjahr von Milei – noch zu vergleichsweise wenigen Protesten gegen die Kürzungspolitik und andere reaktionäre Maßnahmen gekommen war, scheint sich das zu ändern. Bereits Anfang Februar gingen Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße, nachdem Milei seine Rede beim sogenannten Weltwirtschaftsforum in Davos vor allem gegen den »geistigen Virus der Woke-Ideologie« gehetzt hatte.
Auch die Gewerkschaften scheinen langsam aus ihrer Schockstarre zu erwachen. Im vergangenen Jahr hatten sie zwar zu zwei landesweiten Generalstreiks aufgerufen: zu einem am 24. Januar – und damit bereits kurz nach Mileis Amtsantritt – sowie zu einem am 9. Mai gegen das sogenannte Ley Bases. Beide blieben allerdings hinter den Erwartungen zurück, so dass in der zweiten Jahreshälfte 2024 nur wenig folgte. Wohl auch angetrieben durch die aufkommende Welle des Widerstands, kündigte der Gewerkschaftsdachverband CGT nun einen weiteren Generalstreik für den 8. April an. Neben der allgemeinen wirtschaftlichen Lage der Arbeiter dürfte dabei auch das geplante Abkommen mit dem IWF thematisiert werden.
Außerdem kündigte der CGT an, sich an den Mobilisierungen zum »Tag der Erinnerung für Wahrheit und Gerechtigkeit« am kommenden Montag zu beteiligen. Am 24. März finden in Argentinien traditionell Großdemonstrationen statt, um an die Verbrechen der Militärdiktatur zu erinnern und zu fordern, dass derartiges nie wieder geschehe. Am 24. März 1976 hatten die Streitkräfte eine faschistische Diktatur errichtet, die bis Dezember 1983 Bestand hatte. (fres)
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- SOPA Images/IMAGO15.03.2025
Knüppel frei gegen Senioren
- Yves Herman/REUTERS24.01.2025
Überschuss durch Armut
- privat23.11.2024
Geteiltes Rosario
Regio:
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Journalisten gezielt angegriffen
vom 21.03.2025