»Vermutlich eine Verschwörung«
Von Knut Mellenthin
Das Nationalarchiv der USA hat am Dienstag vergangener Woche 2.182 Dokumente zum Mord an US-Präsident John F. Kennedy 1963 mit einem Gesamtumfang von 63.400 Seiten unzensiert freigegeben. Weitere Akten sollen folgen, sobald sie digitalisiert sind. Viele dieser Papiere, vermutlich die meisten, waren auch bisher schon bekannt, aber durch teilweise erhebliche Schwärzungen nicht vollständig zu lesen.
Präsident Donald Trump hatte die Deklassifizierung aller Dokumente zur Ermordung Kennedys am 23. Januar, seinem vierten Tag im Amt, angeordnet. Zur Begründung hieß es, dass die bisherige Geheimhaltung von Informationen zu diesem Ereignis nicht mit dem »öffentlichen Interesse« übereinstimme und die vollständige Freigabe »überfällig« sei. Gleichzeitig wurde angekündigt, dass demnächst auch die Akten zu den Attentaten auf den Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King Jr. (4. April 1968) und auf den Justizminister Robert Kennedy (6. Juni 1968) vollständig geöffnet werden sollen.
Dessen Bruder, der 35. Präsident der USA, war am 22. November 1963 durch mehrere Schüsse getötet worden, als er zusammen mit seiner Frau Jacqueline im offenen Wagen durch Dallas, Texas, fuhr. Die Missachtung aller Sicherheitsstandards ist heute, mehr als 60 Jahre später, nicht nachzuvollziehen. Kennedys Fahrstrecke war mehrere Tage vorher von der Presse veröffentlicht worden. Das Gebäude, aus dem geschossen wurde, lag direkt an der Strecke und war von der Polizei offenbar weder durchsucht noch gesperrt worden. Soviel haarsträubende Nachlässigkeit war auch 1963 nicht üblich.
Der als Einzeltäter präsentierte Lee Harvey Oswald war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt. Er war 1956 mit gerade 17 zu den Marines gegangen und wurde mehrmals wegen Verstößen gegen die Disziplin bestraft. Im Oktober 1959 emigrierte er in die Sowjetunion, kehrte von dort aber im Juni 1962 in die USA zurück. Er sah sich als »Marxist« und insbesondere als Freund der Kubanischen Revolution, rief aber bei Linken durch sein exaltiertes Verhalten eher Misstrauen hervor. Seine Motive, Kennedy zu töten, sind unklar. Im übrigen bestritt er die Tat, an der er aber nach der Beweislage zumindest beteiligt war.
Drei Tage später, am 24. November, wurde Oswald selbst erschossen, als er ohne Sicherungsmaßnahmen vor laufenden Kameras an einer Menschenmenge vorbei aus dem Stadtgefängnis in eine andere Haftanstalt gebracht werden sollte. Der Mörder, Nachtklubbesitzer Jack Ruby, dem kriminelle Aktivitäten nachgesagt wurden, begründete die Tat damit, er habe Kennedys Witwe den Auftritt als Zeugin in einem Strafprozess ersparen wollen.
Die von Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson eingesetzte »Warren-Kommission« gab sich in ihrem Untersuchungsbericht, der im November 1964 veröffentlicht wurde, sicher, dass sowohl Oswald als auch Ruby allein gehandelt hätten. Im Gegensatz dazu kam ein Ausschuss des Abgeordnetenhauses 1979 zur Annahme, dass »mit hoher Wahrscheinlichkeit« zwei Schützen an der Ermordung Kennedys beteiligt gewesen seien und das Attentat »vermutlich das Ergebnis einer Verschwörung« gewesen sei. Allerdings bedeutet das Wort »Conspiracy« im US-amerikanischen Strafrecht lediglich, dass es sich um ein von mehreren Tätern gemeinsam begangenes Verbrechen handelt.
Eine Untersuchung wenige Tage nach dem Mord in Dallas ergab, dass nur 24 Prozent die Einzeltäterthese glaubten, während 62 Prozent die Beteiligung weiterer Personen annahmen. Umfragen im Jahr 2023 brachten ähnliche Ergebnisse.
Zum weitverbreiteten Misstrauen hat der Umstand, dass ein großer Teil des Ermittlungsmaterials jahrelang geheimgehalten wurde, sicher beigetragen. Erst ein 1992 verabschiedetes Gesetz sah vor, innerhalb von maximal 25 Jahren alle Dokumente zum Kennedy-Mord freizugeben. Das wäre im Oktober 2017 gewesen. Vieles war damals tatsächlich schon veröffentlicht, aber eben nicht alles. Trump verlängerte 2017 die Frist bis Oktober 2021, Joe Biden veranlasste eine weitere Verschiebung der Deadline bis Dezember 2022.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (24. März 2025 um 02:07 Uhr)»Das Gebäude, aus dem geschossen wurde, lag direkt an der Strecke und war von der Polizei offenbar weder durchsucht noch gesperrt worden. Soviel haarsträubende Nachlässigkeit war auch 1963 nicht üblich.« Doch, das war üblich, beispielsweise dann, wenn Chruschtschow die DDR besuchte. Die Fahrstrecke war ebenfalls vorher bekannt gegeben worden. In unserer Schule in Berlin-Köpenick bekam jede Klasse ihren festen Stellplatz am S-Bahnhof Karlshorst zum Jubeln und Winken, und zwar jedes Mal, wenn er kam, den gleichen Stellplatz. Anschließend sagte die Lehrerin: »Habt ihr sein trauriges Gesicht gesehen, weil die USA die Friedensvorschläge nicht angenommen haben?« Heute sagt sie vielleicht: »Es ist Verrat, wenn die USA Friedensvorschläge an die Russen richten«. Wie hätte man denn Tausende von Häusern an der Fahrstrecke vorher absperren und durchsuchen sollen? Ein Attentäter hätte bei noch offenen Grenzen nach Westberlin alle Chancen gehabt, zumal ebenfalls im offenen Wagen gefahren wurde. Doch Chruschtschow hatte offenbar von der CIA weniger zu befürchten als Kennedy. Jedenfalls waren viele seiner Entscheidungen in ihrem Sinne. Warum führende Politiker sich auch nach den Schüssen auf den österreichischen Thronfolger 1914 in Sarajevo immer noch weiter in offenen Auto von den Massen bejubeln lassen wollten (auch Hitler, der ja immerhin einige Attentate überlebte), beweist nur, dass Eitelkeit, die Sucht nach Anerkennung und unerschütterliches Sendungsbewusstsein meist stärker sind als Vorsicht. Heute wird die Zustimmung der Bevölkerung durch jahrelange Verhetzung in den Massenmedien garantiert. Es werden zur Unterstützung der Regierungspolitik keine Jungen Pioniere mehr zum Bahnhof Karlshorst geschickt, sondern die »Omas gegen Rechts«. Und damit es nach pluralistischer Eigeninitiative aussieht, finanziert man über NGO noch andere Massendemos nicht als Jubel für die Regierung (sehr schlau eingefädelt) sondern als Protest gegen ihre Gegner.
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Leserbrief von Peter Engels aus Freiburg im Breisgau (23. März 2025 um 21:00 Uhr)Von einer »Missachtung aller Sicherheitsstandards« kann zur damaligen Zeit keine Rede sein. Bis dahin fuhren die meisten Präsidenten regelmäßig in offenen Fahrzeugen durch große Innenstädte. Diese konnten damals auch nicht alle gesichert werden. Und auch die Fahrtrouten wurden natürlich bekannt gegeben, wollte man doch Bilder von jubelnden Menschenmengen im Fernsehen präsentieren können. Nennt man auch »Wahlkampf«. Der von Ihnen erwähnte Ausschuss des Abgeordnetenhauses kam 1979 aufgrund eines inzwischen klar widerlegten akustischen Gutachtens zu seinem Ergebnis, welches daher unter Experten bereits seit Jahrzehnten keine Relevanz mehr hat. Ihre fragwürdige Überschrift »Vermutlich eine Verschwörung« erklärt sich auch durch den dann folgenden eher oberflächlich gehaltenen Artikel nicht, und trägt nur zur weiteren Verbreitung von bestenfalls »Halbwahrheiten« und echten Mythen bei. Peter Engels, Kennedy Infoportal John-F-Kennedy.info
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