Nachhilfe für Lohnentscheider
Von Gudrun Giese
Der gesetzliche Mindestlohn beträgt in der Bundesrepublik seit dem 1. Januar 12,82 Euro pro Stunde. Viel zu gering, meint der Deutsche Gewerkschaftsbund. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) sowie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung präsentieren nun eine wissenschaftliche Begründung für die Notwendigkeit eines Mindestlohns von 15 Euro. Dieser Stundensatz ergibt sich ungefähr, wenn als Zielwert 60 Prozent des Medianlohns aller Vollzeitbeschäftigten zugrunde gelegt werden.
Bisher orientierten sich die Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns an der Tarifentwicklung der Vorjahre, woraus niedrigere Beträge resultierten, teilte das WSI am Montag mit. Im Januar hätte sich allerdings die aus Gewerkschafts- und Unternehmervertretern gebildete Mindestlohnkommission geeinigt, die 60 Prozent vom Medianlohn bei der Berechnung der ab 2026 geltenden Werte mitzuberücksichtigen. Forscher des WSI und des IMK haben für eine Stellungnahme an die Kommission Daten ausgewertet.
Auf einen Mindeststundenlohn von 15 Euro bei Berücksichtigung der 60 Prozent vom Medianentgelt kommen danach verschiedene Institutionen. Lege man Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugrunde, ergebe sich ein Mindestlohn von 14,88 bis 15,02 Euro für 2026 und von 15,31 bis 15,48 Euro für 2027. Nach Berechnungen der OECD müssten schon in diesem Jahr mindestens 15,12 Euro pro Arbeitsstunde gezahlt werden, um den 60-Prozent-Wert zu erzielen. In der EU-Mindestlohnrichtlinie ist dieser Wert festgelegt. Doch bisher haben die zuständigen Gremien in der Bundesrepublik ihn unterlaufen. So kam es auch beim letzten Beschluss der Mindestlohnkommission von 2023 gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter nur zu einer geringfügigen Erhöhung des Stundensatzes auf den aktuell geltenden Betrag.
Bliebe es weiter bei dem bisherigen Anpassungsmodus, der sich an der Tarifentwicklung orientiert, gäbe es ab 2026 lediglich einen Mindestlohn von etwa 14 Euro, haben WSI- und IMK-Experten berechnet. Nach der veränderten Berechnungsgrundlage, die die Mindestlohnkommission in ihrer neuen Geschäftsordnung verankert habe, könne ein solcher Wert jedoch nur »die unterste Grenze des Verhandlungskorridors in der Mindestlohnkommission markieren«.
Die Forscher der beiden Institute empfehlen dem Gremium ein zweistufiges Verfahren, bei dem zunächst die Tarifentwicklung der zurückliegenden zwei Jahre sowie die allgemeine Lohn- und Preisentwicklung als Maßstab für die reguläre Anpassung des Mindestlohns dienen könnten. Als zweites »könnte bis zum Erreichen des Zielwertes von 60 Prozent des Medianlohns eine weitere Komponente hinzukommen, mit der die bestehende Lücke geschlossen« werde. So würde die Mindestlohnkommission Transparenz über ihre Entscheidungsfindung und Verlässlichkeit über die weitere Entwicklung des Mindestlohns herstellen, urteilen die Studienautoren Malte Lübker und Thorsten Schulten vom WSI sowie Alexander Herzog-Stein vom IMK. Letztlich könnte das Gremium damit seine Handlungsfähigkeit beweisen und auch in der Vergangenheit verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Das scheint allerdings auch dringend notwendig. Denn rückblickend betrachtet könne die Mindestlohnkommission keine positive Bilanz vorweisen, befinden die Autoren. Die Anhebungen des Mindestlohns in den vergangenen zehn Jahren hätten »im wesentlichen die Kaufkraftverluste durch die Inflation ausgeglichen«, so die Forscher. Doch gegenüber der allgemeinen Lohnentwicklung und den Produktivitätsfortschritten seien die Anpassungen zu gering ausgefallen. Statt der vorgegebenen 60 Prozent vom Medianentgelt ging so der Mindestlohn nach Zahlen der OECD von 48,2 Prozent im Jahr 2015 auf 44,8 Prozent im Jahr 2021 zurück, bis er 2023 immerhin 51,7 Prozent erreichte. Andere Länder sind erheblich weiter: In Portugal liegt der Mindestlohn bei 68,2 Prozent vom Median, in Slowenien bei 63 und in Frankreich bei 62,2 Prozent.
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