Schwarzes Meer im Blick
Von Reinhard Lauterbach
Hintergrund: Friendly Fire
Am Wochenende hat es wieder einen großen russischen Drohnenangriff auf Kiew gegeben. Die Stadtverwaltung und der Katastrophenschutz posteten Dutzende von Bildern, die demolierte Wohnblocks, zerstörte Autos in den Innenhöfen und ausgebrannte Läden zeigten. Was sie suggerieren sollen, sagt Wolodimir Selenskij jeden Abend: Das ist »russischer Drohnenterror gegen die ukrainische Bevölkerung«.
Aber wenn man die Mitteilungen der örtlichen Behörden genau liest, dann wurde zumindest ein Großteil der Beschädigungen durch »herabfallende Trümmer«, »Drohnenfragmente« und ähnliches ausgelöst. Das bedeutet im Rückschluss, dass die Wohnviertel, in denen die dokumentierten Schäden angefallen sind, womöglich gar nicht Ziel des russischen Angriffs waren, sondern Nebenfolge des Abschusses von Drohnen und Raketen durch die Flugabwehr. Das macht es für die Betroffenen natürlich nicht leichter, aber es wirft ein Licht darauf, wie der ukrainische – und insofern vermutlich jeder – Staat im Krieg auch die eigene Bevölkerung zur Geisel seiner eigenen Durchsetzungsversuche macht.
Das Thema ist in der Ukraine offenkundig heikel zu erörtern. Anfang 2023 wurde in Dnipro ein Wohnblock durch eine abgeschossene russische Rakete getroffen und schwer beschädigt. Als Olexij Arestowitsch, damals noch Kommunikationsberater Selenskijs, darauf hinwies, dass die Rakete wahrscheinlich einen danebenliegenden Rüstungsbetrieb hatte treffen sollen, verlor er seinen Job. Immerhin ist ihm weiter nichts passiert, nur musste er sich ins europäische Ausland absetzen. Aber dass er gelogen habe, hat auch im staatstragenden Teil der ukrainischen Presse niemand behauptet. (rl)
Ziel der Unterredungen über die Situation im Schwarzen Meer sei, so hatte der US-Sicherheitsberater Michael Waltz am Sonntag erklärt, dass beide Seiten den Handel wiederaufnehmen und erneut Getreide und Treibstoff liefern können. Interessant ist dabei der Akzent auf »beide Seiten«. Von Sanktionen gegen russische Exporte über den Seeweg war keine Rede mehr. An solchen Maßnahmen etwa gegen den russischen Düngemittelexport war 2023 das erste Schwarzmeerabkommen gescheitert. Russland hatte es im Herbst jenes Jahres aufgekündigt, nachdem die Ukraine erstmals die Krimbrücke angegriffen hatte. Auch die Ukraine war mit dem alten Abkommen nicht glücklich gewesen, weil es die Sicherheit der Schiffahrt nur für Transporte von Getreide und Lebensmitteln garantierte und beispielsweise Waffenlieferungen über die südukrainischen Häfen ausschloss – was nicht bedeutet, dass sie nicht vorgekommen wären. Jetzt erklärte ein Sprecher der ukrainischen Präsidialkanzlei, der Waffenstillstand zur See müsse auch die Infrastruktur der ukrainischen Häfen umfassen, also den russischen Raketen- und Drohnenangriffen auf den Großraum Odessa, Mikolajiw und Cherson ein Ende setzen.
Zu dieser Form der Kriegführung war Russland übergegangen, nachdem seine Schwarzmeerflotte den Kampf um die Westhälfte des Schwarzen Meeres faktisch verloren hatte und sich angesichts der Gefahr ukrainischer Angriffe mit Seedrohnen des Typs »Neptun« nach schweren Verlusten außer Reichweite dieser Systeme hatte zurückziehen müssen, so dass die Krim als Flottenbasis praktisch ausgefallen ist. Erst in der vergangenen Woche hatte es wieder heftige russische Angriffe auf Odessa gegeben, bei denen auch im Hafen liegende Schiffe getroffen wurden. Ob die Schwarzmeerflotte nach einem eventuellen Waffenstillstand ihre Positionen auf der Krim wieder wird einnehmen können, ist ungewiss. Die Ukraine verfügt ja weiter über die entsprechenden Geschosse und könnte die Stützpunkte jederzeit ein weiteres Mal angreifen.
Parallel zu den Gesprächen in Riad hat der US-Sondergesandte Steve Witkoff mit einem ausgesprochen russlandfreundlichen Interview für Aufmerksamkeit gesorgt. Witkoff äußerte sich bereits am Freitag im Kanal des Trump-freundlichen Moderators Tucker Carlson. Seine Aussagen sind vor allem dadurch bemerkenswert, dass er in wesentlichen Punkten das russische »Narrativ« übernommen hat. So nannte er die vier von Russland beanspruchten Regionen der Südukraine – deren Namen er nicht vollständig aufzählen konnte, aber »Saporischschja« kommt einem Englischmuttersprachler halt nur schwer über die Zunge – »russischsprachig« und erkannte implizit die von Moskau nach der Besetzung veranstalteten Referenden für einen Anschluss der Regionen als Beleg für den politischen Willen der dortigen Bevölkerung an. Das ist ein vollständiger Bruch mit der in der Ukraine und von der Biden-Regierung gepflegten Sichtweise. Witkoff sagte auch, er halte Wladimir Putin für »einen guten Menschen« und gab sich »zu 100 Prozent überzeugt, dass Russland Europa nicht angreifen wird«.
Unabhängig von den Gesprächen in Riad hat Russland seine Angriffe auf Ziele im ukrainisch-russischen Grenzgebiet vorerst fortgesetzt. Zu Wochenbeginn gab es schwere Angriffe auf die an das Gebiet Kursk angrenzende ukrainische Regionalhauptstadt Sumi und mehrere grenznahe Dörfer auf ukrainischer Seite. Dort wurden nach Kiewer Angaben mindestens 88 Menschen verletzt. Die USA unterließen in ihrer Stellungnahme jede Kritik an Russland und erklärten lediglich, genau solche Angriffe seien der Grund für die Arbeit an einer Waffenruhe. Die Ukraine versucht offenbar trotz ihrer Niederlage im Gebiet Kursk jetzt im benachbarten russischen Bezirk Belgorod erneut eine Offensive. Nach übereinstimmenden Berichten beider Seiten hat sie aber nicht ansatzweise das Ausmaß des Angriffs auf Kursk im vergangenen Sommer.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. März 2025 um 15:01 Uhr)Dumm gelaufen: Hier geht es nicht um die Ukraine und den Ukraine-Krieg. Es geht vielmehr um die Neuverteilung der globalen Macht – und Europa wird dabei kolonialisiert. Russland und die Ukraine verfügen über wertvolle Bodenschätze. Die USA haben bereits große Teile der fruchtbaren Schwarzerde aufgekauft, nun folgen die Nordseeleitung sowie sämtliche Gas- und Ölpipelines, die durch die Ukraine verlaufen. Dadurch wird Europa in eine vollständige Abhängigkeit von Energieimporten durch die USA gedrängt. China verfolgt ein ähnliches Prinzip mit Konsumgütern. Die drei Großmächte – die USA, China und Russland – profitieren, während Europa als kolonialisierter Verlierer zurückbleibt.
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