»Ich bin nicht bereit, für einen Staat zu sterben«
Interview: Karim Natour
Vor zwei Wochen ist Ihr Buch »Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde« erschienen. Sie legen dar, warum Sie nicht für Deutschland in einen Krieg gegen einen anderen Staat ziehen würden. Können Sie Ihre Argumentation erläutern?
Ich bin nicht bereit, für einen Staat zu sterben. Die Menschheit ist in etwa 200 konkurrierende Staaten eingeteilt und wird alle paar Jahre, je nachdem, was diese Staaten gerade als »ihre Sicherheit« definieren, aufeinandergehetzt. Da werden Menschen aufeinander losgelassen, die sich nicht kennen, die sich nie kennengelernt hätten und denen es garantiert kein Problem bereitet hätte, friedlich nebeneinanderher zu leben. Sie gehen allein wegen der Machtansprüche ihrer Staatschefs mit dem Gewehr aufeinander los. Ich habe wirklich keinerlei Lust, mich daran zu beteiligen. Das bezieht sich nicht nur auf Deutschland. Solange die Menschen sich mit Kategorien wie Staat oder Volk identifizieren, steht man mit einem Bein schon im Schützengraben.
Aktuell befindet sich die Bundesrepublik nicht im Krieg. Es besteht keine Gefahr, dass Sie morgen zum Dienst eingezogen werden. Wieso haben Sie gleich ein ganzes Buch zum Thema geschrieben?
Der Diskurs dreht sich doch merklich. Vor einem knappen Jahr hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius die Kriegstüchtigkeit ausgelobt. Es wird eine »Zeitenwende« vollzogen, wie es so schön heißt. Jetzt, wo die alte Weltordnung in Frage gestellt wird, nimmt man das gerne als Anlass für ein neues Großmachtstreben der EU. Und Deutschland sieht sich klar in der Führungsrolle. Wenn Friedrich Merz mit den Worten »Deutschland ist zurück« vor die Weltöffentlichkeit tritt, ist das für mich ein Ausdruck dieses Strebens.
Die Gegenseite argumentiert, dass durch Hochrüstung eine Abschreckung des Feindes bezweckt wird, was am Ende den Frieden sichert.
Das ist, was immer schon alle Staaten gesagt haben. »Wir bewaffnen uns, um am Ende die Waffen nie zu gebrauchen.« Komischerweise stimmt das nie. Historisch betrachtet versuchen Staaten, mehr Gewaltmittel zu haben als der Gegner. Und wenn der Punkt kommt, wo man seine Konflikte nicht mehr friedlich lösen kann, dann greift man auch zu den Mitteln der Gewalt. Ich bin nicht bereit zu glauben, dass Deutschland niemals solche Ambitionen anmelden wird.
Ich glaube nicht, dass Deutschland bald irgendwo einmarschiert. Aber Friedrich Merz wollte schon vor über 20 Jahren mit in den Irak. Im Bundestag hat er gesagt, Deutschland müsse bereit sein, seine Interessen in der Welt durchzusetzen. Das klingt nicht so, als wäre langfristig alles defensiv gedacht. Selbst wenn Staaten offen angreifen, wird es »Verteidigung« genannt. Die USA mit all ihren Interventionen haben stets nur ihren »Way of Life« verteidigt. Putin behauptet, die Freiheit der russischsprachigen Ukrainer zu verteidigen. Die deutsche Freiheit wurde am Hindukusch verteidigt.
Die berühmte Vorwärtsverteidigung.
Jeder Krieg wird mit Verteidigungsgründen gerechtfertigt – jede Aufrüstung genauso. Ich glaube nicht daran.
Sie haben eine neue Weltordnung und das deutsche »Großmachtstreben« erwähnt. Sind das die Hauptursachen der aktuellen Aufrüstung?
Die »Zeitenwende« ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgerufen worden. Aber innerhalb der EU hat man schon länger mit diesen Gedanken gespielt. Es wurde befürchtet, dass die USA sich irgendwann zurückziehen. Die US-Amerikaner haben ja nicht aus Nettigkeit Truppen in Europa, sondern weil sie Russland in Schach halten wollten. Jetzt merkt Washington, Moskau kriegt mit Ach und Krach ein Viertel der Ukraine eingenommen. So gefährlich sind sie wohl nicht. Nun konzentriert man sich auf China.
In einem Kapitel befassen Sie sich mit den Ursachen von Krieg. Sie behaupten, dass Krieg unterm Strich schädlich für das Kapital sei, da Produktionsstätten und Infrastruktur zerstört würden. In der marxistischen Imperialismustheorie wird von Krisen der Überakkumulation ausgegangen, die durch Kapitalvernichtung – zum Beispiel im Krieg – »gelöst« werden können.
Ich kann der Leninschen Imperialismustheorie nicht viel abgewinnen. Wenn ich mich frage, warum in der Ukraine Krieg geführt wird. Natürlich geht es auch um Ressourcen. Aber ich denke nicht, dass das der Kriegsgrund ist. Der russische Präsident Wladimir Putin meint die Invasion durchaus als Angriff auf die NATO. Manche Kriege mögen aus ökonomischen Gründen geführt werden, aber oft gibt es andere Motive.
Sie sehen im staatlichen Machtstreben die Ursache kriegerischer Konfrontationen. Dann stellt sich doch die Frage, was Staaten »als solche« für ein Interesse an Krieg haben. Schließlich kostet er Haushaltsmittel und bringt der Regierung Ärger mit der Bevölkerung ein.
Man muss zunächst fragen, was überhaupt ein Staat ist. In der Staatstheorie wird der Staat für sein Gewaltmonopol gelobt. Ansonsten wäre es ja ein Krieg aller gegen alle. Da glaube ich nicht dran. Aber selbst wenn, bräuchte es nicht 200 konkurrierende Staaten – einer würde reichen. In der Realität existieren mehrere Gewaltmonopolisten, die die Gewalt nach innen reduzieren, um dann nach außen permanent gewalttätig zu sein, aber in viel krasserer Form. Ein Staat tendiert dazu, seine Macht erweitern zu wollen.
Was bringt es Deutschland, seinen Machtbereich zu erweitern? Stehen dahinter nicht auch ökonomische Interessen?
Die modernen Nationalstaaten sind aus den Kriegen der vergangenen Jahrhunderte hervorgegangen. Ein Staat, der einer sein will, muss in diesem System permanent zum Krieg bereit sein, weil er sonst eingenommen wird. Aus den konkurrierenden Souveränen, die permanent konfligierende Interessenlagen haben – auch ökonomischer Art – ergeben sich quasi automatisch »Reibereien«.

Zurück zur aktuellen Debatte: Vor zwei Wochen haben Bundestag und Bundesrat Grundgesetzänderungen beschlossen, um Schulden in Billionenhöhe für höhere Rüstungsausgaben aufnehmen zu können. Was bedeutet das für die kommenden Jahre?
Das heißt zunächst, dass es einen Blankoscheck für sogenannte Verteidigungsausgaben gibt. Der Staat behauptet umgekehrt, woanders sparen zu müssen. Zwar hat man die »Verteidigung« aus dem Kernhaushalt genommen. Daraus müssen aber trotzdem die Zinszahlungen für die Schulden geleistet werden, und die werden üppig sein. Nun will Friedrich Merz den Sozialstaat schröpfen. Das wollte er zwar sowieso, aber jetzt gibt es eine gute Rechtfertigung: Die nationale Sicherheit verlangt es. Er sagt dann: Tja, blöd, jetzt muss bei der Rente und dem Bürgergeld gekürzt werden. Wir hätten das auch gerne anders. Aber es muss verteidigt werden, sonst gibt es überhaupt kein Bürgergeld mehr.
Egal woher man das Geld für den Panzer nimmt, irgendwer muss ihn fahren – derzeit zumindest noch. In Ihrem Buch beschreiben Sie als wesentlichen Teil der Hochrüstung den Prozess, in der Bevölkerung die Bereitschaft zu schaffen, in den Krieg zu ziehen. Laut mehreren Studien ist aktuell nur eine Minderheit bereit, das deutsche »Vaterland« mit der Waffe zu verteidigen. Bewerten Sie die Gefahr einer möglichen Mobilmachung in der Zukunft vielleicht über?
Das Perfide ist: Darauf lässt es der Staat gar nicht ankommen. Ein Staat, der nicht bereit ist, seine Bürger gegen deren Willen zu opfern, kann sich überhaupt nicht ernsthaft in der Staatenkonkurrenz behaupten.
In Deutschland gibt es ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung.
Das gab es in der Ukraine auch. Es wurde schnell gekippt. Wer es momentan in Anspruch nehmen will, kommt in den Knast oder wird trotzdem an die Front zum Krepieren geschickt.
Buch hin oder her, Sie können sich also gar nicht aussuchen, ob Sie für Deutschland in den Krieg ziehen.
Ja. Der Titel ist zwar gut geeignet, um Bücher zu verkaufen. Das spricht den Alltagsverstand an. Aber es ist in Wahrheit doppelt gelogen. Erstens, weil ich Deutschland nicht als »mein Land« ansehe. Und zweitens, weil der Staat es darauf gar nicht ankommen lässt.
Sie haben Spott und Hohn für Ihre Position geerntet, sagen Sie. Wie fielen die Reaktionen aus? Und warum werden Sie attackiert?
Als ich einen Artikel dazu bei Zeit Online geschrieben habe, war es extrem. In der Kommentarspalte waren fast alle wahnsinnig sauer, dass ich nicht kämpfen wollen würde. Das liegt an der Klientel. Also an einem bürgerlichen Publikum, das sauer ist, wenn sich jemand erlaubt zu sagen: »Mir ist es der Staat nicht wert.« Weil diese Klientel den Staat wahnsinnig schätzt, ist es wie eine Art Sakrileg.
Es ist ein Problem für den Staat, wenn Leute plötzlich sagen: Ich identifiziere mich nicht damit.
Solange das eine Minderheitsmeinung bleibt, ist das erst mal kein Problem. Aber es ist schon bemerkenswert, dass ganz normale Bürger, die wohl auch nicht gern im Schützengraben sitzen würden, sich von meiner Kritik derart angegangen fühlen.
Haben Sie eine Hypothese, warum das so ist?
Ich war kürzlich zu dem Thema in einer Late Night Show bei Sarah Bosetti zu Gast. Da war ein linksliberales Publikum. Leute, die aussahen, als würden sie einer Friedensdemo entspringen. Ich denke, es sind Menschen, die wirklich von diesem System profitieren. Also solche, die irgend einen Bullshitjob machen, der in Ordnung bezahlt wird und ihnen nicht zu viel Energie abverlangt. Oder Beamte. Es sind diejenigen, die den regsten Gebrauch von ihrer Meinungsfreiheit machen. Für viele andere Menschen, die sich jeden Tag halb zu Tode rackern, danach noch drei Stunden pendeln müssen und sich abends um die Kinder kümmern, ist die Meinungsfreiheit nicht das Entscheidende im Leben.
Angenommen, ich hätte das Publikum gefragt: Ist etwas von dem, wofür ihr demonstriert habt, mal eingetreten? Wenn man ihnen vorhalten würde, dass, obwohl sie sich frei etwa zum Mindestlohn oder der Geflüchtetenpolitik äußern dürfen, sich komischerweise nie etwas ändert, dann müsste es ihnen irgendwann mal aufgehen: Ich mache hier Gebrauch von einer Freiheit, die realpolitisch gar nicht so relevant ist, und die mir genau deshalb gelassen wird. Für diese Menschen ist es das Allergrößte, dass sie etwas fordern dürfen, was sie nie bekommen. Und das ist ihnen angeblich ihr Leben wert.
Und Ihres.
Und meins.
Ole Nymoen ist freier Journalist, Podcaster und Buchautor. Sein Buch »Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde« erschien im März 2025 im Rowohlt-Verlag.
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Leserbrief von Bernd Lehmann (29. März 2025 um 18:04 Uhr)Hallo Ole, habe soeben diesen Artikel gelesen, Danke! Ich kann dir sagen, mit deiner Haltung stehst du keinesfalls allein auf weiter Flur. Die, die von Kriegstüchtigkeit reden und die, die die Waffen in Auftrag geben, die wirst du nie an der Front sehen. Davon reden ist immer etwas anderes, als vorn dabei zu sein. Ich weiß, wovon ich rede, obwohl ich »nur« 18 Monate Wehrpflicht abgeleistet habe. 18 Monate weg von zu Hause, weg von der Familie. Auf dem Schießplatz »nur« auf Papp- und Blechfeinde schießen müssen. Noch heute bekomme ich das große Nachdenken, was wäre, wenn diese Feinde zurückgeschossen hätten? Also bleibt die Erkenntnis, das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis. Und es bleibt die alles entscheidende Frage, wer braucht einen Krieg und wem nutzt ein Krieg? Für Frieden und friedliches Miteinander zu sein, bedeutet gesichert denken zu können. Ganz unterstützende Grüße
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. März 2025 um 08:05 Uhr)Auch wenn es etwas wirr in Ole Nymoens Gedankenwelt zugeht: Alle Achtung vor seiner Verweigerungshaltung dem Krieg gegenüber. Allerdings unterschätzt er die Gewalten, die zum Kriege drängen. Und ihre Macht, ihn letztendlich doch zu verheizen. Und sei es nur als Opfer. Gegen den Krieg kommt man nur an, wenn man ihn an der Wurzel packt. Keine Waffe in die Hand nehmen zu wollen, ist dazu nur ein relativ winziger Schritt.
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