Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 07.04.2025, Seite 10 / Feuilleton
Jazz

Bis sich die Balken biegen

Erst Rosskur, dann Entmüdungsbecken: Sehr unterschiedliche Jazzalben von Hiromi und Macie Stewart
Von Andreas Schäfler
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Keine Gnade: Hiromi

Jazzrock? Das war doch jener unselige Musikstil, der gegen Ende des vergangenen Jahrtausends an krankhafter Hektik, angeberischer Virtuosität und übertriebener Tempobolzerei zugrunde ging. Man ist seitdem gut ohne ihn gefahren, doch jetzt drängt er sich in Gestalt der japanischen Keyboarderin Hiromi Uehara plötzlich wieder auf. Das nervöse Wetteifern der Melodieinstrumente, das wieselflinke Blubbern vom E-Bass und die protzigen Power Drums auf »Out There« – es klingt tatsächlich diffus vertraut.

Statt nun gleich wieder zu fremdeln und am kampfsportlichen Charakter des Albums rumzumäkeln, geht man also folgsam kurz in die Knie ob der stupenden Fingerfertigkeit der Chefin und erliegt auch pflichtschuldig ihrer Band Sonicwonder, die selbstverständlich mit lauter Kraftprotzen besetzt ist: dem hitzigen Trompeter Adam O’Farrill, dem unerbittlichen Trommler Gene Coye und dem manischen Bassmann Hadrien Feraud.

Als klassisch geschulter Kinderstar war Hiromi bereits mit 17 in die Fänge Chick Coreas geraten, der sie zu einem intergalaktischen Jazzrockracheengel aufbaute und dann den Fahrensmännern Stanley Clarke und Lenny White empfahl. Hiromi emanzipierte sich zügig von den alten Herren, startete durch und lässt seitdem erst recht keine Gnade mehr walten. Auf »Out There« trichtert sie einem ihren komplexen Kram mit so vielen Beats per Minute in die Ohren, dass sich im ganzen Oberstübchen die Balken biegen. Aber wann immer im internen Überbietungswettbewerb der Band keine Steigerung mehr möglich ist, macht Hiromi dem Spuk mit albernen kleinen Fanfaren vom Billigsynthesizer ein Ende. Will jeweils heißen: Beruhigt euch, ist alles nicht so ernst gemeint! Um dann gleich wieder Anlauf für die nächste Hochseilnummer zu nehmen … Zum Fürchten ist diese Völlerei aber auch deshalb nicht, weil oft genug aus gewittrigem Himmel eine unvergleichlich anmutige solistische Klavierkaskade in akustischer Reinkultur erklingt.

Ungefähr dem Gegenteil von Hiromis energetischem Hochleistungskonzept hat sich Macie Stewart für ihr neues Album »When the Distance is Blue« verschrieben, und zwar der schieren Entschlackung. Die junge Jazz- und Rockmusikerin aus Chicago, die schon im Duo mit der Songwriterin Sima Cunningham hervortrat und auch als Arrangeurin für Alabaster DePlume u. a. arbeitet, ist eine eigenwillige Komponistin und passionierte Statikerin des Klangs. Sie experimentiert mit herkömmlichem und präpariertem Klavier, spielt Geige in einem freizügigen Streichquartett und reichert ihre vagen musikalischen Skizzen mit Sequenzen aus Field Recordings an, die sie auf ihren Reisen gebunkert hat. So entsteht eine unaufgeregte, fast zeitlupenhafte und stoisch exakte Vermessung tonalen Neulands.

Den Nachhall eines einzelnen Klaviertons zu verfolgen, den filigranen Reibungen von 16 Darmsaiten zu lauschen, lange Pausen auszuhalten oder den Obertönen einer Gesangsstimme durch ein Treppenhaus nachzusteigen – solche Prozesse werden zum Programm erhoben. Um »Selten gehörte Musik« war es einst den bildenden Künstlern Dieter Roth, Gerhard Rühm und Oswald Wiener gegangen. Macie Stewarts diesbezüglicher Aktionismus kommt ohne jeden provokativen Ansatz aus.

Bedeutungsvolle Postapokalypse oder doch nur der Soundtrack zu einer schlichten Teezeremonie? Der Albumtitel »When the Distance is Blue« verweist auf Rebecca Solnits Essayband »Die Kunst, sich zu verlieren: Ein Führer durch den Irrgarten des Lebens«, was den kontemplativen Charakter dieser Musik betont. Sie bleibt dennoch schwer auszudeuten. Aber man macht auf dieser Terra incognita so große Ohren wie lange nicht und begreift noch einmal neu, was für ein schöner analoger Vorgang das Zuhören doch ist.

Hiromi: »Out There« (Concord/Universal)

Macie Stewart: »When the Distance is Blue« (International Anthem/Indigo)

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