Das Leben des Zeichners
Von Marc Hieronimus
Wenn dem Schriftsteller nichts einfällt, schreibt er über einen Schriftsteller, dem nichts einfällt. Das gilt auch für Comics und kann da, wenn gut gemacht, sogar sehr unterhaltsam sein. Wie oft hat die U-Comix-Leserin Bronsky Proko, das Alter Ego des Zeichners Édika gesehen, wie er am Zeichentisch sitzt und über genau der Geschichte brütet, die sie gerade liest? Formen der Selbstreferenz können im Humorgenre eine Story würzen, am Laufen halten oder, wie in den faszinierenden Welten des »Gefangenen der Träume« Julius Corentin Acquefacques (Marc-Antoine Mathieu, Reprodukt) oder des »einzig wahren Superhelden des Comics« mit Namen Unschlagbar (Pascal Jousselin, Carlsen) sogar zu ihrem Fundament werden.
Das dahingestellt ist die Schilderung des Kunstschaffendenalltags noch lange kein Spannungsgarant. Bastien Vivès’ gefeiertes »Letztes Wochenende im Januar« (Schreiber & Leser) ist die Geschichte eines Seitensprungs des Autors oder seiner gleichnamigen Figur während des Comicfestivals in Angoulême. Kann man machen, ein romantisches Fremdgehen schildern, aber die Geschichte wird nicht glamouröser oder dramatischer, wenn der Zeichner sie selbst erlebt hat.
Wer sich aber für das Verlagswesen und Zeichnerleben interessiert, wird derzeit von Reprodukt gut mit Lesestoff versorgt. In »Wie ich Frankreich erobert habe« schildert der finnische Zeichner Ville Ranta in Aquarell und krakeliger Linie, wie er eines Januarmorgens Frau und Kind in Helsinki im Stich ließ, um es ein zweites Mal in Frankreich zu versuchen. Dort ist dieser Comic 2021 bei einem Kleinverlag erschienen, seither hat er genau einen weiteren veröffentlicht. Da sind in Paris ganz andere Karrieren möglich, aber darum geht es ja auch in dem Buch: Vogelköpfige Großverlagsmenschen zeigen sich von seinen Werken begeistert, aus dem großen Deal wird dann aber nichts. Der Autor säuft und schafft verdrossen weiter.
Ein viel größer und allgemeiner angelegter Comic über Comics ist »Die große Illusion« über eine junge Frau, die Ende der 1930er Jahre nach New York kommt, mit der verrückten Idee, mit Geschichten über Detektive und Superhelden Karriere zu machen. Der Italiener Alessandro Tota schickt seine Protagonistin in die Wirren von Liebe, Kriminalität, politischen und Zuwandererkonflikten, Wirtschaftskrise und Armut. Die Anfänge sind schwierig, aber ihre eingebildeten Helfer unterstützen sie. Tota hat eine eigene Handschrift. Die Häuserfluchten des alten New York erinnern an Winsor McCay und Will Eisner, die sehr vereinfachten Gesichter schließen an die frankobelgische Tradition an, die Milieuschilderung und die Vermischung der fiktionalen Ebenen von erzählter Geschichte und vorgestellten Comicfiguren, die in sie eingreifen, machen den Band zu etwas Einzigartigem.
Stilistisch noch einmal ganz anders anders ist Taiyo Matsumotos »Tokyo dieser Tage«, nämlich ein überwiegend schwarzweiß gezeichneter (und nicht wie üblich von einem Team im Schnellverfahren vorgezeichneter, rein gezeichneter, getuschter, am Ende geletterter und mit einem Cover versehener) Manga über die Mangaindustrie. Der Redakteur Kazuo Shiozawa kündigt unerwartet seinen Job. Sein Magazin wurde eingestellt, die Zeichner, die er betreut und verehrt, wirken ausgebrannt. Alle Menschen, denen wir in dieser Verlagswelt begegnen, sind einsam, traurig, desillusioniert, uninspiriert und/oder unter Zeitdruck, weil mal wieder Seiten nicht rechtzeitig fertig werden. Fast verkauft Shiozawa sogar seine Mangasammlung, dann aber rafft er sich auf, um Künstler für sein letztes Projekt, den perfekten Manga, zu gewinnen. Wo es sonst immer um Verkaufszahlen geht und niemand gut vom Zeichnen leben kann, soll Geld dieses Mal keine Rolle spielen. À propos: Alle drei Werke sind durch Kulturförderung unterstützt worden. Wer weiß, wie lange es die noch gibt.
Taiyo Matsumoto: Tokyo dieser Tage. Band 1. Aus dem Japanischen von Daniel Büchner. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 240 Seiten, 20 Euro
Ville Ranta: Wie ich Frankreich erobert habe. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 164 Seiten, 20 Euro
Alessandro Tota: Die große Illusion. Band 1 – New York, 1938. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Reprodukt-Verlag, Berlin 2024, 248 Seiten, 29 Euro
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