Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 07.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

»Wir sind hier alle gute Menschen«

Jonathan Lethem fordert mit seinem Buch »Der Fall Brooklyn« zum Tanz auf
Von Ken Merten
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Kennt sich gut aus in New York: Jonathan Lethem

Die Schreibschulregel »Write what you know« ist so falsch nicht. Bezeichnend wird es nur, wenn man den Schluss aus ihr zieht, sich auf dem auszuruhen, was man schon zu wissen glaubt, um darüber zu schreiben. Dann wird das Gesichtsfeld ausgewalzt, mit Innerlichkeit um sich geschmissen und sich zu allem Überfluss damit gerechtfertigt, man sei ja der Authentizität verpflichtet und habe nur die eigene Perspektive zur Verfügung. Eine Welt aus Atomen: Wer braucht schon Recherche?

Offensichtlich Jonathan Le-them: Der dankt am Ende seines neuen Buchs »Brooklyn Crime Novel« einer ganzen Menge an Menschen, die ihm dafür zugearbeitet haben. Als »Der Fall Brooklyn« ist es nun anderthalb Jahre nach Erscheinen des Originals beim Klett-Cotta-Imprint Tropen erschienen. Der deutsche Titel schürt den Zweifel, den der recht fantasielos wirkende englische bereits hervorkitzelte, ob es sich da wirklich um einen Roman handle. Lethem kam 1964 im New Yorker Stadtteil Brooklyn zur Welt und wuchs in jenen Brownstoners auf, über die er schreibt. Die wurden im Laufe der Jahrzehnte von den Heimen des meist nichtweißen Großstadtproletariats zu hippen Spekulationsobjekten, gerieten erst zu Leinwänden der aufkommenden Graffitikultur. Später trieb man ihre Seele aus, indem man sie bunt anstrich und zugunsten der Gefängnisindustrie ahndete, wer sich dort per Sprühdose auszudrücken wagte. Denn zur Gentrifizierung gehört(e) der Polizeistadtstaat samt Racial Profiling: »Giulianis Anti-Verbrechens-Regime«, wie Lethem die Law-and-Order-Politik des New Yorker Bürgermeisters in den 1990ern nennt.

Rassismus aber war schon lange vorher da, und manchmal ließ er sich gegen die ihn gebärenden Verhältnisse wenden: Wenn geklaut wurde, dann lenkten die schwarzen Jungs durch ihre Präsenz die Aufmerksamkeit der Ladendetektive auf sich, während der Weiße im Freundeskreis munter mit Fünffingerrabatt shoppte.

»Der Fall Brooklyn« kippt wieder und wieder ins Essay, besonders, wenn es um Identitätsdebatten geht: »Sprachwechsel, intersektional, koabhängig und ein Dutzend andere Begriffe kamen ihm Jahrzehnte zu spät ins Bewusstsein, um das chaotische Leben zu erklären, das sein Körper damals als Dean-Street-Junge führte.« Aber auch mit Wissen um diese Begriffe ist nicht automatisch alles sortiert: Lethems Buch gerät gegen Ende zur verquasten Plauderei und hätte sich gut kürzen lassen. Dass Lethem eine Lanze für das Erzählen statt des Zeigens – als Umkehr eines anderen Schönschreiblehrsatzes (»Show don’t tell«) – bricht, würde er als Dozent für Creative Writing am Pomona College im kalifornischen Clarement bei seinen Studierenden vielleicht als Strohmannargument rot anstreichen. Schließlich geht es dabei nicht um Prägnanz, sondern um die Frage, wieviel man den der Mündigkeit fähigen Leserinnen und Lesern zumutet, ohne restfrei aufzuklären.

In vielen starken Momenten jedoch lässt Lethem, der sich bereits mit den Romanen »Motherless Brooklyn« (1999) und »The Fortress of Solitude« (2003) der Jugend in seinem Heimatkiez widmete, dort Lücken, um großen Bildern Platz zu schaffen: »Wahrscheinlich bist du nie einem Rassisten, einem Nazi oder auch nur jemandem begegnet, der für Nixon gestimmt hat«, heißt es über Brooklyn vor den 1970ern, und: »Wir sind hier alle gute Menschen.« Jene guten Menschen fordern sich im Fortgang von »Der Fall Brooklyn« regelmäßig zum »Tanz« auf, den Lethem wiederum akribisch, fast soziologisch unter die Lupe nimmt und recht daran tut. Denn die Kulturpraxis, die wenig mit Schwofen, viel mit Einander-Abziehen, stets aber mit zwischenmenschlicher Feinmechanik zu tun hat, folgt strengen Regeln und führt zu allerlei Irritationen, wenn die kollektiven Patterns plötzlich missachtet werden. Ein Junge, der sein Kleingeld trotz Aufforderung nicht rausrückt, sondern dafür ein Stück Pizza kauft und vor den Wegelagerern seelenruhig, aber mit Mulm im Bauch isst, hebelt Brooklyn für einen Augenblick scheinbar aus: »Dieser ganze Tag, diese ganze Welt genügt seinen Anforderungen, seiner Orchestrierung nicht.«

Auch wenn die Pizza durch den kleinen Triumph um so köstlicher ist: Die Ordnung bleibt bestehen und funktioniert nicht ohne entsprechende Grausamkeiten, nicht ohne Giulianis Büttel und Miethaie. »Wartet am Ende des Buches ein Monster?« Nicht nur am Ende. Und nicht nur eins.

Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel, Tropen-Verlag, Stuttgart 2025, 448 Seiten, 26 Euro

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