Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.04.2025, Seite 12 / Thema
Antiimperialismus

Dividenden steigen, Proletarier fallen

Die »Zeitenwende« macht eine Rückbesinnung auf Rosa Luxemburgs Kritik der Kriegstreiberei von links dringend notwendig
Von Sophie Voigtmann
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Die Notwendigkeit internationaler Solidarität zeigt sich gerade im Krieg, in dem sich die Arbeiter auf Geheiß des Kapitals gegenseitig abschlachten müssen (deutsche Soldaten bestatten französische Gefallene, 1915)

Waffenlieferungen für den Frieden, Militarismus als Antiimperialismus, kapitalistische Klassenherrschaft als Garant von Freiheit und Demokratie? Gegen die Orientierungslosigkeit der gesellschaftlichen Linken angesichts westlicher Kriegspropaganda hilft nur eine klare Analyse der objektiven Verhältnisse – und ein Blick in die Geschichte. Wie Krieg mit Hilfe linker Rhetorik legitimiert werden kann, wissen wir spätestens seit Joseph »Joschka« Fischers »Nie wieder Auschwitz«-Lüge, doch das Phänomen lässt sich noch weiter, bis zum Ersten Weltkrieg, zurückverfolgen. Im August 1914 kapitulierte die internationale Sozialdemokratie vor der Kriegstreiberei – allen voran die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die bis dahin noch als Vertreterin der Interessen des revolutionären Proletariats gegolten hatte. Mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten wurde offiziell der sogenannte Burgfrieden geschlossen, der proletarische Klassenkampf gegen den Feind im eigenen Land eingestellt und so der Frieden an der Heimatfront gesichert. Anstatt die imperialistische Interessenlage herauszustellen, die zum Krieg geführt hatte, proklamierten Partei- und Gewerkschaftspresse das Stillhalten bis zum Sieg des deutschen Vaterlands.

Rosa Luxemburg, damals Mitglied der SPD und Kämpferin gegen den Revisionismus und Opportunismus in ihren Reihen, hatte schon früh zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung aufgerufen. Während des Kriegs verbrachte sie daher insgesamt mehrere Jahre im Gefängnis, wo sie auch die Abhandlung »Die Krise der Sozialdemokratie« schrieb, die im Juni 1916 unter dem Pseudonym »Junius« erschien. Der politische Diskurs, der damals Anlass wurde für Luxemburgs scharfe Analyse des Verrats der SPD-Führung an den breiten Massen der arbeitenden Bevölkerung, weist frappierende Analogien zu aktuellen politischen Diskussionen angesichts der »Zeitenwende« auf. Der als »Junius-Broschüre« bekanntgewordene Text liest sich in weiten Teilen wie eine Kritik des Verhaltens heutiger Linker und Linksliberaler angesichts eines weiteren potentiellen Weltkriegs, ausgelöst durch allseitige Provokationen infolge der kapitalistischen Staatenkonkurrenz um Rohstoff- und Absatzmärkte, angeheizt und legitimiert durch nationalistische Hetze: Die Linke verliert mal wieder den Kopf, anstatt im Namen der internationalen Solidarität der Kriegstreiberei den Kampf anzusagen.

Intellektuelle Legitimierung

Entsprechend der Behauptung des Kaisers Wilhelm II., er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, schwenkte die sozialdemokratische Führung unter der Losung »Vaterland in Gefahr, nationale Verteidigung, Volkskrieg um Existenz, Kultur und Freiheit« auf den patriotischen Kriegskurs ein. Dass der Krieg als notwendiges Mittel der Selbstverteidigung des bedrohten Deutschlands inszeniert wurde, überraschte Luxemburg nicht: »Wann und wo hat es denn einen Krieg gegeben, seit die sogenannte öffentliche Meinung bei den Rechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, in dem nicht jede kriegführende Partei einzig und allein zur Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen gerechten Sache vor dem schnöden Überfall des Gegners schweren Herzens das Schwert aus der Scheide zog?« fragte sie.¹

Um die Bevölkerung zu willigen Soldaten zu machen, ist die ideologische Legitimierung des Kriegs notwendig: Die »Bestialität der Praxis« müsse durch »die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung« vorbereitet und begleitet werden, so Luxemburg. Ihre Freundin und Genossin Clara Zetkin sagte über den Ersten Weltkrieg: »Wenn es neben den Großbourgeois, neben den reformistischen Sozialverrätern Leute gibt, die von oben bis unten mit dem Blut des vierjährigen Mordens bedeckt sind, so sind es die Intellektuellen.« Zetkin zufolge halfen damals Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler bei der Verbreitung von Lügen »zur Begründung des Rechts der von ihnen vertretenen Staaten, den Feind mit Feuer und Schwert auszurotten, sie erfanden Schauermärchen von unmenschlichsten Greueltaten der Feinde, sie verbreiteten planmäßig, was nur an kriegsförderlichem Schwindel zu ersinnen war«.²

Auch heute biedern sich Wissenschaftler dem deutschen Militarismus wieder an, indem sie die »Zeitenwende« ideologisch flankieren. Bei der Rechtfertigung des Kriegs tut sich etwa die deutsche Osteuropaforschung – schon immer auch ein politisch-ideologisches Instrument des Militarismus und des Expansionsstrebens nach Osten – hervor. So legitimiert der medial besonders präsente Tübinger Osteuropaexperte und Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung Klaus Gestwa im Tagesspiegel Aufrüstung und Waffenlieferungen damit, dass die Ukraine »in einem mörderischen Zermürbungskrieg verzweifelt um ihr Überleben kämpft«. Auch Paul Schäfer und Gerry Woop von der Linkspartei zufolge geht es »um das Überleben der Ukraine als unabhängiger Staat«, weshalb Waffenlieferungen notwendig seien und man sich »gegenüber äußeren Aggressionen abwehrbereit« machen müsse, wie sie in einem Beitrag im ND – Der Tag fordern.

Nationalchauvinismus von Links

Zetkin und Luxemburg gehören mit Karl Liebknecht und Franz Mehring zu den wenigen, die im Sinne des proletarischen Internationalismus konsequent die deutsche Kriegspropaganda entlarvten. Luxemburg erklärte: »In der Pogromstimmung, die sich in den ersten Kriegswochen der deutschen Öffentlichkeit bemächtigt hatte, glaubte man alles«, etwa, »dass die Kosaken Stearinkerzen fressen und Säuglinge an den Beinchen packen und in Stücke reißen« und »die russischen Kriegsziele darauf ausgehen, das Deutsche Reich zu annektieren, die deutsche Kultur zu vernichten« und den Zarismus einzuführen. Mit der Begründung, man vertrete die Freiheit und Demokratie gegenüber dem rückständigen und despotischen Russland, schlugen sich weite Teile der SPD auf die Seite der Kriegstreiber. Luxemburg beschrieb, wie die Sozialdemokratie »revolutionäre Überlieferungen des Sozialismus gebraucht, um den Krieg demokratisch zu adeln«. Die gerechte Selbstverteidigung Deutschlands sei zugleich ein Kampf um die europäische Kultur und Demokratie, dem deutschen Militarismus wird die »Rolle des ›Befreiers der Nationen‹« vom russischen Regime angedichtet. Die Sozialdemokratie verriet damit ihre internationalistischen Grundsätze und missbrauchte ihr sozialistisches Erbe, um das Proletariat für den Krieg zu motivieren. Die reale Bedeutung dieser Phrasen wurde schnell offensichtlich: »Alle, Polen, Juden wie Russen, haben wohl gar bald die einfache Wahrnehmung gemacht, dass ›deutsche Gewehrkolben‹, mit denen man ihnen die Schädel zerschmettert, ihnen nicht die Freiheit, sondern den Tod bringen«, so Luxemburg.

Was die Unterstützung des deutschen Militarismus mit Hilfe linker Phrasen angeht, haben Sozialdemokraten und Grüne ihre Skrupellosigkeit wiederholt unter Beweis gestellt, etwa indem sie die deutsche Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien mit angeblichem Antifaschismus oder Waffenlieferungen in Kriegsgebiete mit »feministischer Außenpolitik« legitimierten. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken behauptete im April 2024, in der Ukraine würden »unsere westlichen Werte und nicht zuletzt die Demokratie gegen einen autokratischen Herrscher, der unsere Freiheit und unsere offene Gesellschaft verachtet«, verteidigt. Auch die sogenannte Parlamentarische Linke in der SPD-Bundestagsfraktion erklärte ihre »uneingeschränkte Solidarität« mit dem ukrainischen »Kampf für Freiheit und Demokratie«. Der Gegner wird als Hort reaktionärer Unkultur dargestellt, dessen Angriff auf die westliche Demokratie und den Frieden die Verteidigung nicht nur notwendig, sondern zur Ehrensache macht. Dass es dem deutschen Imperialismus nicht um das Wohlergehen der Menschen geht und in keinem der bürgerlichen Staaten, weder in Russland noch in der Ukraine oder Deutschland, Gleichheit und Demokratie verwirklicht sind, scheint jenen Linken, die dieser Argumentation folgen, nicht aufzufallen. Sie machen sich zu nützlichen Idioten einer Politik, die deutsches Großmachtstreben unter dem Deckmantel emanzipatorischer Phrasen gutheißt und damit erneuten Kriegsverheerungen den Weg ebnet. Die IG-Metall-Vorsitzende Christiane Benner begrüßt Kriegskredite als Beitrag für eine »wehrhafte Demokratie«. Klaus Gestwa verklärt sein Trommeln für Waffenlieferungen an die Ukraine gar zu »Antifaschismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus«.³

Krieg gegen die Werktätigen

Luxemburg benennt als wesentliche Kriegsursache die Konkurrenz der modernen kapitalistischen Nationalstaaten und ihren Kampf um globale Einflusssphären. Der Ausbruch eines neuen Kriegs ist unter diesen Umständen nur eine Frage der Zeit, die Kriegsgefahr ist permanent, selbst in Friedenszeiten gärt »der heimliche, im Stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten gegen alle«. Im imperialistischen Krieg geht es um Profite, geostrategische Interessen und den Erhalt bestehender Machtstrukturen, das Proletariat dient als Kanonenfutter und hat im übrigen nichts zu gewinnen. Indem die Führer der SPD und der Gewerkschaften den antikapitalistischen Klassenkampf für stillgelegt erklärten, lieferten sie die Arbeiterklasse der Willkür der Herrschenden aus. Sie setzten sich für die Wahrung des nationalen sozialen Friedens ein und protestierten nicht gegen die autoritären Regierungsmaßnahmen und Einschränkungen von Grundrechten wie Presse- und Versammlungsfreiheit – obwohl diese sich letztlich gegen die Sozialdemokratie richteten, denn »nur von ihrer Seite«, so Luxemburg, hätte man »Widerstand, Schwierigkeiten und Protestaktionen gegen den Krieg erwarten« können. Die SPD trug mit patriotischer Rhetorik zur Stabilisierung der herrschenden Ordnung bei und hielt der Regierungspolitik den Rücken frei. Sie ermöglichte die rücksichtslose Ausweitung des Kriegs, indem sie »die einzigen Dämme, die der ungehemmten Sturmflut des Militarismus entgegenstanden«, niederriss.

In der »Junius-Broschüre« zerpflückt Luxemburg ausführlich die von den Sozialdemokraten vertretene Parole der Verteidigung des Vaterlands. Historisch spielte die nationale Idee im Kampf um die Konstituierung der bürgerlichen Staaten gegen die feudale Herrschaft eine emanzipatorische Rolle – doch seit der Monopolkapitalismus etabliert ist, dient sie »nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen« und als »ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können«. Von Souveränität und Selbstbestimmungsrecht im emanzipatorischen Sinne, also als »Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige Verfügung über die eigenen Geschicke«, kann in kapitalistischen Staaten ohnehin keine Rede sein, denn selbst in Friedenszeiten ist die Mehrheit der Bevölkerung abhängig, unterdrückt und ausgebeutet. Nur im Kampf gegen die Klassenherrschaft – welcher aus der Perspektive des bürgerlichen Patriotismus immer einen Angriff auf die Nation und ihre Wehrkraft darstellt – kann sie sich befreien.

Der Krieg selbst steht im Widerspruch zu den Interessen der Bevölkerung und damit auch zu ihrem Selbstbestimmungsrecht, denn sie erhält unter dem Motto der nationalen Selbstbestimmung »die Rolle des Kanonenfutters unter dem Kommando der imperialistischen Bourgeoisie«. Schon die Verfasser des »Kommunistischen Manifests«, Marx und Engels, stellten klar: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«, und auch Liebknecht wusste: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Diese Erkenntnis scheint heute vergessen, wenn bis weit in linke Kreise hinein die Auffassung vertreten wird, dass die Bevölkerung ein Interesse an der Verteidigung ihres jeweiligen Vaterlandes habe.

Illusion »nationale Verteidigung«

Das »Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung steht für uns außer Frage«, erklärte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zum Antikriegstag am 1. September 2023. Der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke meinte, die Ukraine habe »jedes Recht auf Selbstverteidigung und den Erhalt ihrer territorialen Souveränität«. Dabei wird übersehen oder ignoriert, dass die ukrainische Bevölkerung nicht die Interessen ihrer Staatsführung teilt, die für massive Angriffe auf Arbeiterrechte und -organisationen verantwortlich ist. Auch die Linkspartei proklamiert ein »Recht auf Selbstverteidigung« der Ukraine »gegen den Angriff Russlands«. In einer gemeinsamen Erklärung der IG Metall mit dem »Arbeitgeberverband Gesamtmetall« werden die Sanktionen gegen Russland, die als politisches Kriegsmittel zur Verelendung der russischen Arbeiterklasse führen und sie gegen ihre Regierung aufbringen sollen, aufgrund »der völkerrechtswidrigen Aggression Russlands« als »eine unausweichliche und richtige Antwort« gerechtfertigt. Nicht nur die negativen Folgen für die russische, sondern auch die für die deutsche Arbeiterklasse werden damit legitimiert.

Schon Rosa Luxemburg wusste, dass die jeweiligen Machthaber in Russland und Deutschland – wie »die moderne Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft auf Schritt und Tritt« zeigt – den Krieg als »ein mit Vorliebe angewandtes und erprobtes Mittel gegen den ›inneren Feind‹« nutzen. So wird heute nicht nur in der Ukraine die linke Opposition unter dem Kriegsrecht rigoros unterdrückt, während Faschisten im Staatsapparat⁴ hofiert werden, auch in Russland und Deutschland mehren sich die Schikanen gegen Kriegsgegner, die jeweils als Handlanger des Gegners diffamiert werden. Anstatt dieses Vorgehen der Herrschenden anzuprangern, stimmen viel zu viele Linke in den Chor der nationalen Solidarität ein und erkennen die Verleumdungen und Repressionen teilweise nicht einmal als solche an.

Der Begriff des reinen Verteidigungskriegs eines Landes kann Luxemburg zufolge in den bestehenden Verhältnissen gar nicht sinnvoll angewendet werden. Die Aufrüstung, die die militärische Eskalationsspirale antreibt, geschieht im »Wettkampf aller Staaten« und kann nicht einfach national lokalisiert werden. Jeder von bürgerlichen Staaten geführte Krieg ist ein Kampf um geopolitischen Einfluss, nirgends geht es nur um nationale Selbstverteidigung – auch wenn es aus der Perspektive eines einzelnen Landes oder bestimmter Politiker so aussieht. Luxemburg hält fest, dass der Erste Weltkrieg durch Deutschland provoziert wurde, dennoch ist »bei der allgemeinen Einschätzung des Weltkriegs und seiner Bedeutung für die Klassenpolitik des Proletariats die Frage der Verteidigung und des Angriffs, die Frage nach dem ›Schuldigen‹ völlig belanglos«.

Die Positionierung der Linken zum Krieg kann nicht auf Grundlage der erklärten politischen Absichten eines einzelnen Landes stattfinden, sondern muss den Kontext des weltweit etablierten Monopolkapitalismus berücksichtigen: »Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag.« Selbst im Fall kleinerer Staaten, bei denen es formal und isoliert betrachtet um nationale Verteidigung geht, spielen imperialistische Interessen größerer Staaten eine entscheidende Rolle. Die Analyse der realen weltpolitischen Zusammenhänge ergibt laut Luxemburg, dass solche Kleinstaaten objektiv zu einer »Schachfigur im großen Schachspiel der Weltpolitik« gemacht werden. Der internationale Kapitalismus bestimmt den Charakter der Kriege in den einzelnen Ländern und macht reine nationale Verteidigungskriege unmöglich.

Die einzige linke Perspektive

Aus Luxemburgs Analyse folgt, dass das Bewahren der bestehenden Verhältnisse, die den Krieg fortwährend hervorbringen, nicht das Ziel linker Politik sein kann. Diese sollte sich weder »zur Verteidigung des bestehenden Klassenstaates unter das Kommando der herrschenden Klassen stellen noch schweigend auf die Seite gehen, um abzuwarten, bis der Sturm vorbei ist«. Unabhängig davon, welcher imperialistische Staat den Krieg gewinnt, wird es »zu neuen fieberhaften militärischen Rüstungen« kommen, die auf einen weiteren Weltkrieg hinauslaufen. Es ist nicht die Aufgabe einer klassenbewussten Arbeiterpartei, sich »Rezepte für die bürgerliche Diplomatie« auszudenken, »wie diese den Frieden schließen soll«, oder »mit utopischen Ratschlägen und Projekten, wie der Imperialismus im Rahmen des bürgerlichen Staates durch partielle Reformen zu mildern, zu zähmen, zu dämpfen wäre«, aufzuwarten. Genau das ist es aber, was sowohl das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als auch die Linkspartei versuchen. Letztere fordert einen »Dialogprozess« über »die wechselseitigen Sicherheitsinteressen« und »Fragen der Abrüstung«. Auch Wagenknecht findet, dass »Deutschland wieder eine Stimme der Vermittlung« werden müsse. In ihrem »Manifest für den Frieden« forderte sie gemeinsam mit Alice Schwarzer Anfang 2023 von Bundeskanzler Olaf Scholz, er solle sich »für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen« einsetzen. Damit wird verschleiert, dass die bloße Beendigung des Kriegs in den kapitalistischen Verhältnissen erneut internationale Konkurrenz und militärische Eskalation zur Folge haben wird. Die Forderung nach Abrüstung unter den Bedingungen bürgerlicher Klassenherrschaft erklärt Luxemburg für »völlig utopisch«, da der Militarismus ein notwendiges Produkt des kapitalistischen Klassenstaats ist.

Gerade im Krieg zeigt sich das gemeinsame Interesse der Proletarier aller Länder, die auf den Schlachtfeldern sterben, und damit die Notwendigkeit einer klassenbewussten Politik im Sinne der internationalen Solidarität. Luxemburg zufolge ist der Krieg »nicht bloß als ein grandioser Mord, sondern auch als Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse« zu verstehen, deren Mitglieder »einander auf Geheiß des Kapitals« gegenseitig »abschlachten«. Auch im Ukraine-Krieg wird das Kanonenfutter der kriegführenden Staaten mit nationalchauvinistischen Phrasen über die Verteidigung des Vaterlands auf die Schlachtfelder getrieben.

Hierzulande wird der Krieg von den Herrschenden zum Kampf um westliche Kultur, Freiheit und Demokratie stilisiert und benutzt, um die »Kriegstüchtigkeit« Deutschlands voranzutreiben. Davon profitiert die ausbeutende Klasse, deren Angehörige »Geld ohne Ekel aus einer Kloake und ohne Entsetzen aus einem Blutmeer aufheben«, wie schon Clara Zetkin konstatierte.⁵ Zunehmende Aufrüstung und Repressionen gegen die Unterdrückten und Ausgebeuteten sollen den Erhalt des kapitalistischen Systems sichern, das sich aufgrund seiner inneren Widersprüche aktuell einmal mehr in der Krise befindet. Die Lasten werden durch Preiserhöhungen, stagnierende Reallöhne und Kürzungen im sozialen Bereich vergesellschaftet, während die Gewinne weiterhin privatisiert werden. Unter den Kriegsgewinnlern sind vor allem Energie- und Rüstungskonzerne – so ist der Aktienkurs von Rheinmetall seit Anfang 2022 um weit über tausend Prozent gestiegen.

Im imperialistischen Krieg gilt: »Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.« So brachte Rosa Luxemburg es auf den Punkt. Daher muss der Klassenkampf im Kriegsfall eigentlich erst recht geführt werden, die Arbeiterklasse muss ihre eigene Politik allen Kriegsparteien entgegenstellen. Doch die Sozialdemokratie gab schon 1914 ausgerechnet »ihre wichtigste Waffe aus der Hand: die Kritik des Kriegs vom besonderen Standpunkt der Arbeiterklasse«. Die Linke schaffte es damals nicht und scheitert auch heute kläglich daran, die Krise der bürgerlichen Gesellschaft auszunutzen und dem reaktionären, auf Verteidigung der bürgerlichen Nationalstaaten ausgerichteten Kriegsprogramm das emanzipatorische Programm des Sozialismus entgegenzustellen, das allein Freiheit, Frieden und Demokratie retten und verwirklichen kann. Solange die Arbeiter aller Länder nicht klar und einheitlich organisiert sind, werden sie ihre Aufgabe, »den Imperialismus im entscheidenden Moment gerade im Kriege anzugreifen und die alte Losung ›Krieg dem Kriege!‹ in die Praxis umzusetzen«, nicht erfüllen können.

Aus der »Junius-Broschüre« stammt auch Luxemburgs Verweis auf Engels’ Formel der Alternative von Sozialismus oder Barbarei und ihre Feststellung: »Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet.« Angesichts der Krise der Linken in der »Zeitenwende« wäre eine starke Stimme des revolutionären Internationalismus und Antimilitarismus wie die Rosa Luxemburgs dringendst von nöten. Ihre Analyse der Krise der Sozialdemokratie beendete sie mit folgenden Worten: »Der Wahnwitz wird erst aufhören, und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Russland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Anmerkungen

1 Die »Junius-Broschüre« wird hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Werke, Bd. 4. Berlin 2000, S. 49–163

2 Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 3. Berlin 1960, S. 22 f., S. 535 f.

3 Vgl. freie-radios.net/132072

4 Susann Witt-Stahl (Hg.): Der Bandera-Komplex. Berlin 2024, S. 212 ff.

5 Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1. Berlin 1957, S. 329

Sophie Voigtmann hat Philosophie und Ethnologie studiert und setzte sich als Mitgründerin und Sprecherin des Aktionsbündnisses »Kein Knoten für Zetkin« erfolgreich gegen die Diskreditierung der kommunistischen Kriegsgegnerin Clara Zetkin in Tübingen ein.

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  • Leserbrief von Bernd Vogel aus Leipzig (10. April 2025 um 14:19 Uhr)
    Es gibt vieles im Text zu loben, aber es gibt auch eine methodologische Schwachstelle. Die Autorin verwendet Ausdrücke wie »linke Politik« oder »linke Perspektive«. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat die Erkenntnis formuliert: »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.« In den Grenzen meiner kleinen Sprachwelt ist »links« eine Orientierung im Raum, keine politische Kategorie. Der Ausdruck »linke Politik« ist semantisch leer, weswegen man vortrefflich darüber fabulieren kann, was linke Politik denn sei. Mit der Verwendung des Ausdrucks »links« ist keine materialistische Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse möglich, wegen des falschen methodologischen Werkzeugs. Man könnte »links« durch »sozialistisch« ersetzen. Der Ausdruck »sozialistische Perspektive« ist ein sinnvoller Ausdruck, der Ausdruck »linke Perspektive« ist das nicht. Also: mehr Materialismus wagen. Links ist keine Kategorie einer materialistischen Gesellschaftsanalyse.
    Auch zu den Ausführungen zur Ukraine ist eine Ergänzung sinnvoll. Solidarität war ein wichtiges Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in der DDR. Man war mit allen politischen Kräften solidarisch, die von imperialistischen Aggressoren angegriffen wurden. Als letztlich der Präsident der Ukraine, eines von einem imperialistischen Angriff betroffenen Landes, im Bundestag gesprochen hat, sind einige Abgeordnete verschwunden. Nun hat die derzeitige Ukraine eine oligarchische und nationalistische politische Landschaft, aber sie ist objektiv das Opfer einer imperialistischen Aggression. Wer die Solidarität mit dem Opfer verweigert, ist wohl eher durch schlüssiges praktisches Handeln solidarisch mit dem Aggressor. Das sind schon seltsame Friedensfreunde.
    Bezüglich der Russischen Föderation wird im Text eine gewisse Zärtlichkeit gezeigt. Für jemanden wie mich, der Russland, die russische Sprache und Kultur liebt, ist es schwer, sich einzugestehen, dass die heutige Russische Föderation wie einst das zaristische Russland ein sicherer Ort für alles Reaktionäre in Europa ist. Die Russische Föderation ist ein aggressiver, militaristischer Staat mit einer extrem reaktionären Ideologie. Die Russische Föderation führt einen imperialistischen Angriffskrieg zum Erwerb fremder Territorien, um deren Ressourcen ausbeuten zu können, worüber Präsident Putin mehrfach gesprochen hat. Es ist dies ein objektiver Befund, der subjektiven Schmerz verursacht. Der deutsche Imperialismus treibt den Militarismus voran, viele Konzepte haben möglicherweise in Schubladen bereits gelegen. Aber ohne die Handlungen der Russischen Föderation wären die Schubladen des deutschen Militarismus und Imperialismus nicht zu öffnen gewesen.
    Um den heutigen Krieg zu verstehen, ist eine materialistische Analyse mit sozialistischer Perspektive erforderlich.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (10. April 2025 um 09:06 Uhr)
    »Von Souveränität und Selbstbestimmungsrecht im emanzipatorischen Sinne, also als ›Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige Verfügung über die eigenen Geschicke‹, kann in kapitalistischen Staaten ohnehin keine Rede sein (…)«. Sophie Voigtmann kennt leider keinen Unterschied zwischen dem imperialistischen NATO-Block und Ländern wie Russland oder China. Sollte etwa Russland der NATO-Osterweiterung und die VR China ihrer Einkreisung tatenlos zuschauen? Nordkorea hat aus dem US-Überfall von 1950 die Lehren gezogen und sich atomar bewaffnet. Die Behauptung, dass es keine Verteidigungskriege geben könnte, war schon 1916 falsch, erst recht heute. Rosa Luxemburgs Junius-Broschüre wird von der Autorin so oft zitiert, als wäre das ein Jahrhundertwerk. Lenins »Über die ›Junius‹-Broschüre« wird dagegen aus gutem Grund überhaupt nicht erwähnt. Es reicht hier nicht der Platz, deshalb nur ein kleiner Auszug: »(…) Aber auch in praktisch-politischer Hinsicht ist dieser Fehler sehr schädlich, denn daraus wird die unsinnige Propaganda für die ›Entwaffnung‹ abgeleitet, da es angeblich keine anderen Kriege mehr geben könne als reaktionäre; daraus wird die noch unsinnigere und direkt reaktionäre Gleichgültigkeit den nationalen Bewegungen gegenüber abgeleitet. Eine solche Gleichgültigkeit wird zum Chauvinismus, wenn Angehörige der europäischen ›großen‹ Nationen, d. h. der Nationen, die eine Masse kleiner und kolonialer Völker unterdrücken, mit hochgelahrter Miene erklären: ›Nationale Kriege kann es nicht mehr geben!‹ Nationale Kriege gegen imperialistische Mächte sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, sie sind unvermeidlich, sie sind fortschrittlich und revolutionär, obgleich natürlich zu ihrem Erfolg entweder die Vereinigung der Anstrengungen einer ungeheuren Zahl von Bewohnern unterdrückter Länder (Hunderte Millionen in dem von uns angeführten Beispiel Indiens und Chinas) erforderlich ist oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage (...)«.
  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (9. April 2025 um 17:00 Uhr)
    Wertvoller Beitrag bis auf ein wichtiges Detail: Der SPD (ab 1914) oder die heutigen sogenannten »Grünen« weiterhin das Prädikat zuzuschreiben, dass diese politisch links einzuordnen sind. Die Formulierung »linke Rhetorik« ist gleich doppelt falsch: Weder ist die Rhetorik links, noch die Verfasser derselben. Die waren das vielleicht mal (oder auch nicht), aber sind es doch (schon lange) nicht (mehr). Dass dieser Fehler in einem sonst brillanten Text so auffallend präsent ist, hat vielleicht etwas mit der »rechts-/links-Verwirrung« zu tun, auf die mensch heutzutage überall stößt. Nehmen wir z. B. mal die auch bei der BRD-Stasi (aka »Verfassungsschutz«) so beliebte wie falsche Hufeisentheorie: Biegen wir dieses imaginierte Hufeisen zu einem geraden Strang auseinander, kommen wir der Realität schon ein gutes Stück näher. Aber auch nicht ganz, denn da ist ja immer noch diese überall so positiv konnotierte »Mitte«, eben in der Mitte dieses Strangs. Tatsächlich ist es ja auch so, dass jeder Mensch und auch jede Institution aus einer Mischung von rechten und linken Ideen besteht, manche davon relevant für die Menschheit, andere eher weniger. Je mehr vermischt diese Ideen sind, umso mehr stellt sich diese Entität in die »politische Mitte«(tm), was eben völlig falsch als positiv angesehen wird. Denn in Wirklichkeit handelt es sich bei der genauen Mitte um nichts anderes, als die maximal mögliche Verwirrtheit, da sich linke und rechte Ideen immer konträr widersprechen und in Summe gegenseitig ausschließen. Wer nun so verwirrt ist oder auch bewusst entsprechende Verwirrung stiftet, dass gegenseitiges Massenschlachten befürwortet wird, hat eine dermaßen relevante, politisch rechte (!) Auffassung, dass er:sie auf dem aufgebogenen Hufeisen ganz weit rechts anzusiedeln ist. Fazit: Parteien wie Grüne oder SPD (spätestens seit 1914) sind rechtsextreme Parteien und auch wenn ihre Rhetorik manipulativ ist bis zum Abwinken, handelt es sich um (mindestens larviert) rechtsextreme Rhetorik.
  • Leserbrief von Joachim Becker aus Eilenburg (9. April 2025 um 10:44 Uhr)
    Die Linken, die Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner in der BRD sollten sich auch auf die Analysen über den imperialistischen Krieg der einstigen deutschen Kriegsgegnerin Rosa Luxemburg zurückbesinnen. Denn solange der Imperialismus weiterhin weltweit herrscht, wird es auch weiterhin weltweit Ausbeutung und Unterdrückung und damit auch Krieg geben. Imperialismus bedeutet Krieg. Um dauerhaft Frieden zu schaffen, muss der Imperialismus nicht nur in einem oder in einzelnen Ländern, sondern weltweit abgeschafft werden.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (8. April 2025 um 10:47 Uhr)
    Sehr geehrte Frau Voigtmann, ich danke für diesen sehr guten und notwendigen Beitrag. Allerdings, und dies war auch das Problem 1914 und 1933, ist es notwendig auch Gesellschaftsanalyse zu betreiben: Sicherlich, »der Kapitalismus … die Wolke den Regen« doch dies ist eben für einen konkreten Widerstand zu pauschal. Gerade in der aktuellen Kriegsvorbereitung fällt auf, dass nicht unerhebliche Teile des Kapitals selber schon durch die Vorbereitung Verluste einfahren. Insofern wäre es interessant, ob sich nicht auch dort ein Keil in die Kriegstreiber hineinschlagen lässt, oder zu ermitteln, warum Teile des Kapitals bereit sind, für einen Krieg Verluste einzufahren. Womit sich damit natürlich die Frage stellt, welche konkreten Ziele hat die deutsche Bourgeoise in einem Krieg gegen Russland, warum werden diese etwa von Spanien nur mäßig und von den USA gar nicht mehr unterstützt. Eben dies wäre Aufgabe der wenigen integreren Intellektuellen. Das die Intellektuellen in ihrer Mehrheit immer auf der Seite der Herrschenden stehen, da sie ja nun leider kein anderes Einkommen haben kann nur die Verwundern, die auch in Friedenszeiten oft und gerne darüber hinwegsehen, wie diese für den Staatserhalt agieren, auch wenn sie sich noch so progressiv geben.

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