»Kein Ort für Menschen«
Von David Siegmund-Schultze
Al-Mawasi war vor dem Krieg gegen Gaza einer der wenigen weitgehend unbewohnten Bereiche in dem dichtbesiedelten Küstenstreifen. Am 18. Oktober 2023 erklärte die israelische Armee das Gebiet jedoch zur »humanitären Zone«, in die sich die Einwohner Gazas begeben sollten. Rim Abd Rabu, im Dezember 2023 nach Mawasi geflohen, sagte damals gegenüber der BBC, das Gebiet sei »kein Ort für Menschen«. Auch der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus, sagte im November 2023: »Der Versuch, so viele Menschen auf so engem Raum mit so wenig Infrastruktur und Dienstleistungen zusammenzupferchen, wird die Gesundheitsrisiken für Menschen, die bereits am Rande der Belastbarkeit stehen, erheblich erhöhen.«
Israels Armee hat die genaue Eingrenzung von Al-Mawasi im Laufe des Kriegs mehrfach geändert, je nachdem macht es etwa zehn bis 13 Prozent des Gazastreifens aus. Wie viele Menschen sich dort genau befinden, ist unklar. Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) zufolge waren es im September 2024 mehr als eine Million. Die gesundheitlichen und hygienischen Bedingungen in dem überfüllten Zeltlager sind extrem schlecht. Laut einem Bericht der Organisation Ärzte ohne Grenzen vom August 2024 haben die Vertriebenen keinen angemessenen Zugang zu Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Für Wasser oder Latrinen müssten sie teilweise stundenlang anstehen. »Jeden Tag kommen zwischen 300 und 400 Menschen in die medizinische Klinik, von denen 200 Fälle mit Hautkrankheiten zusammenhängen«, erklärt der Kinderarzt Jussef Salaf Al-Farra in dem Bericht. »Kinder sind am stärksten betroffen, insbesondere von Hautkrankheiten, die hochansteckend sind.«
Die als sicher ausgegebene »humanitäre Zone« wurde außerdem mehrfach angegriffen. Bei Bombenabwürfen am 13. Juli 2024, die nach israelischen Angaben Mohammed Deif, dem Chef des militärischen Arms der Hamas, galten, wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde in Gaza 90 Menschen getötet. Bei diesem und anderen Angriffen, die zu Dutzenden Toten führten, setzte die Armee einer Analyse von Al-Dschasira zufolge etwa 900 Kilogramm schwere US-Bomben in dem Zeltlager ein, deren Splitter bis in eine Entfernung von 360 Metern tödlich wirken.
Infolge der jüngsten Vertreibungen sowohl im Norden als auch im Süden des Küstenstreifens dürfte der Druck, nach Al-Mawasi zu fliehen, weiter steigen. Auch, weil die Armee bereits zu früheren Zeitpunkten des Krieges »Todeszonen« geschaffen hat. Das geht aus einem am Montag von der israelischen Organisation Breaking the Silence veröffentlichten Report hervor, der Zeugenaussagen von Soldaten dokumentiert. Für die »Pufferzone« entlang des Grenzzauns berichten die Soldaten, dass sie den Befehl erhielten, jegliche Gebäude und Infrastruktur dem Erdboden gleichzumachen und jeden, der den Bereich betritt, zu töten. Je nach Einheit und Zeitpunkt des Einsatzes unterscheiden sich die Aussagen, ob das Töten aller oder nur männlicher Personen befohlen wurde. Ähnliches enthüllte die israelische Zeitung Haaretz für den Netzarim-Korridor bereits im Dezember 2024. Auch hier soll laut Angaben beteiligter Soldaten eine »Todeszone« ausgerufen worden sein, in der die Regeln der Kriegführung weitgehend ausgesetzt seien.
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