Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 12.04.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Nepal

Urlaub mit Gewissensbissen

Nepal: Trekking zwischen Bergabenteuer, Klimaverbrechen und postkolonialer Ausbeutung
Von Clara Ehrhardt
Eindeutig schwerer als zwölf Kilogramm: Das Gepäck der Träger (Nyak, 2024)
Gletscher am Manaslu: Das Schmelzen des Eises ist sichtbar (2024)
Viele Nepalesen leben in bitterer Armut (Samagon, 2024)

Es ist Mittag und die Wolken hängen tief. Um diese Uhrzeit hüllen sich die höchsten Gipfel der Welt meist in Nebel. Einer der Träger huscht mit 30 Kilogramm auf dem Rücken und einem Lächeln auf dem Gesicht an mir vorbei. Wir selbst, eine Gruppe gut situierter deutscher Touristen in der Obhut zweier nepalesischer Bergführer, schlendern mit einer warmen Mahlzeit im Bauch und maximal 12 Kilogramm beladen unserer Unterkunft entgegen. Steile Schluchten, kleine Häuser, an die Hänge gepresst wie Bienenstöcke, Ritualschreine am Wegesrand. Die Berge so unecht, dass man glauben könnte, jemand habe sie als Kulisse an den Horizont gestellt. Erst bei genauerem Hinschauen wird klar, dass die Kulisse nicht gut instandgehalten wurde.

Der Weg zum Manaslu Base Camp beginnt auf 3.500 Höhenmetern und führt uns ein karges, steppenartiges Tal hinab, an einem See vorbei. Dort beginnt unser Aufstieg. Der See wird zum Bachlauf und die Luft langsam dünner. Erst als wir Pause machen, habe ich Zeit, mich umzusehen. Der Bachlauf ist verschwunden. Statt dessen fällt ein Abgrund neben uns steil ab. Ein leises Rauschen lässt sich vernehmen. Ich trete näher an die Abbruchkante und spähe hinab. Ein leeres Tal. Wie eine offene Wunde klafft es an der Flanke des Manaslus, des achthöchsten Bergs der Welt. Ein Geräusch zerreißt meine Gedanken. Ein lautes Knacken, dann Poltern. Der Schall springt von Stein zu Stein und dann an mein Ohr. Wie Felsen, die in Zeitlupe den Hang hinabstürzen. »Dort!« Einer der Guides deutet den Hang hinauf. Tief in der Wunde des Berges stürzen gewaltige graue Brocken ins Tal. Irgendwo in dem rauschenden Bergbach bleiben sie liegen.

Nackte Gletscher sind nicht hübsch. Ohne ihr weißes Gewand verlieren sie ihre majestätische Würde. Und ihre Unsterblichkeit. Sie sind mit Schutt und Dreck bedeckt, werden grau wie das Geröll. Keine Decke aus Schnee schützt sie vor der gnadenlosen Sonneneinstrahlung. Und so schwillt der türkis glitzernde See am Fuße des Manaslus immer weiter an. Nur dieses Tal, das das Eis über Jahrtausende hinweg in den Stein grub, bleibt bestehen. Ein Zeugnis seiner Anwesenheit. Die Gletscherschmelze lässt sich überall auf der Erde beobachten. Doch hier, am Fuße des Manaslus, drängt das Versagen der Menschheit sich mit unangenehmer Dringlichkeit auf. Erst kurz vor dem Base-Camp, auf 4.800 Höhenmetern, wird der Gletscher wieder weiß. Kein noch so gewiefter Marketingstratege könnte das greenwashen.

Seit dem Jahr 2000 hat sich die Geschwindigkeit der Gletscherschmelze in der Himalaja-Region verdoppelt. Bis zum Jahr 2100 werden sie laut Berechnungen bis zu 80 Prozent ihres Volumens verlieren1. Für mich und meine Bergkameraden ein schockierender Anblick. Doch wenn wir mal ehrlich sind, ist es für uns doch eher ein ästhetisches, sportliches und schlimmstenfalls moralisches Problem. Für zwei Milliarden Menschen und unzählige Tierarten aber hängt von diesen Gletschern ihre Wasser-, Energie- und Lebensmittelversorgung ab.

Das Abtauen der Permafrostböden setzt die Berghänge in Bewegung und kann so zu fatalen Erdrutschen, Hangrutschen und Schlammlawinen führen. Zudem versorgt das Schmelzwasser der Gletscher das Land durch Wasserkraft mit Strom, bewässert die Felder und liefert Trinkwasser. Abends suche ich auf müden Beinen nach Empfang. 0,54 Tonnen CO2 verbraucht der durchschnittliche Nepali im Jahr, sagt mein Handy.2 10,8 Tonnen sind es in Deutschland3.

Auf dem Weg zurück zur Lodge begegnet mir einer der Träger. Er ist kleiner als ich und mit Sicherheit jünger. Ich versuche es mit einem Witz, der aber hat keine Chance gegen die krude, jahrhundertealte Machtdynamik zwischen uns. Er lächelt, obwohl er mich nicht versteht. Ich bilde mir ein, dass sein Lächeln traurig ist. Heute Nacht wird er mit den Guides und Trägern in der Garage auf dem Boden schlafen, da in der Lodge keine Betten mehr frei sind. Mich hingegen erwartet am nächsten Morgen, wenn ich auf über 3.600 Meter aus meinem warmen Bett steige, frischer Kaffee.

Mathe ist unbequem

Zu Beginn der Reise teilte unsere Agentur uns mit, dass wir den Trägern pro Person und Tag zwischen 10 und 15 Euro Trinkgeld zahlen sollten. Dazu kommen 354 Euro, die wir pauschal pro Träger an die Agentur zahlen, bei der die Träger angestellt sind. Wie viel davon schlussendlich bei ihnen landet, ist schwer nachzuvollziehen. Schließlich zahlt die Agentur auch die Verpflegung, Übernachtungen und Versicherung der drei Männer für zwei Wochen.

Die Diskussion über die Höhe des Trinkgeldes stellt sich als recht kompliziert heraus. Als Geizhals will niemand dastehen, aber man will ja auch nicht die »Preise kaputtmachen«. Auf die Idee mal nachzurechnen, was diese Zahlen für die Leben der Männer bedeutet, kommen wir leider nicht. Vielleicht wollen wir die Zahlen in ihrer unbequemen Klarheit auch lieber vermeiden. Schließlich einigen wir uns, und jeder der Träger erhält 220 Euro.

Erst zurück in der beruhigenden Einfachheit meines eigenen Lebens, wage ich es, den Taschenrechner zu zücken: Ich gehe von dem – zugegebenermaßen unrealistischen – Fall aus, dass die gesamten 565 Euro wohlbehalten bei den Trägern ankommen. Doch selbst dann müssten sie 11,8mal im Jahr eine solche Tour unternehmen, um auf das mittlere nepalesische Jahreseinkommen von 984.165 nepalesischen Rupien (6.668 Euro) zu kommen4. Zwölf Touren würden bedeuten, dass sie die Hälfte des Jahres weit weg von Freunden und Familien verbringen. Aus verschiedenen Gründen ist dies allerdings ohnehin nicht möglich. Zum einen hängt die Anzahl der Touren von der Nachfrage der Touristen ab, und da Träger und Guides vertraglich gebunden sind, können sie keine Angebote von anderen Agenturen annehmen. Zum anderen ist das Gebirge nur saisonal begehbar. Der Manaslu Circuit Trek beispielsweise kann wegen Winter und Regenzeit nur zwischen September und November und zwischen März und Mai begangen werden. Durchschnittlich unternehmen Träger und Guides daher eher vier oder fünf Touren im Jahr und arbeiten saisonal in anderen Branchen.

Das Märchen des Tourismus

1953 wurde der Tschomolungma von Tenzing Norgay und Edmund Hillary mit Hilfe von 350 Trägern erstbestiegen und von da an als »britischer« Mount Everest bekannt. Es folgte der »italienische« K2, der »Schweizer« Lhotse, der »niederländische« Manaslu. 70 Jahre später, und der Imperialismus in den Bergen ist noch immer kaum gezügelt – nur nennt er sich heute Tourismus. Und verkauft sich geschickt an die ehemaligen Kolonialherren. Wer in ein armes Land reist, unterstützt die dortige Wirtschaft und gibt den Einheimischen Arbeit. Ausbeutung ist als Chance zu begreifen und Tourismus ein Akt der Barmherzigkeit.

Ich schwanke zwischen Ehrfurcht und simpler Furcht, als sich mir die nächste Passage unserer Wanderung offenbart. Ein Erdrutsch hat einen großen Teil des Hangs ins Tal befördert. Alles, was vom Weg übriggeblieben ist, ist ein sandiger, maximal einen halben Meter breiter, schlüpfriger Pfad. Links geht es steil bergab. Die Schlammlawine hat keinen Fels und keinen Strauch übriggelassen, der den tödlichen Fall in die Stromschnellen unter uns bremsen könnte. Neben mir versucht ein älterer Mann in Flipflops, sich von einer Felsbank, auf der er gerastet hatte, zu erheben. Doch der gewaltige Korb, den er auf dem Rücken trägt, bis weit über seinen Kopf vollgestapelt mit metallenen Kochtöpfen, Kannen und Kesseln, bringt ihn ins Straucheln. Er schwankt, richtet sein Stirnband und versucht sein Gleichgewicht wiederzufinden.

Abends sitzen wir in der gut geheizten Stube und lästern über eine Schweizer Reisegruppe, die gleichzeitig mit uns durch die Berge zieht. Sie ist das Objekt unserer Erheiterung und ein karikaturistisch verzerrter Spiegel unserer selbst. Aber es macht immer mehr Spaß, die zu beneiden, die mehr haben, als zu bemitleiden, wer weniger hat. Mit lässiger Selbstverständlichkeit nehmen die Teilnehmer des Schweizer »Komfort­trekkings« – wie es auf der Website heißt – ihre warmen, nach Eukalyptus duftenden Handtücher in der Lodge entgegen. Was für eine Wohltat! Träger und Guides beginnen unterdessen auf 3.800 Höhenmetern Käsefondue vorzubereiten. Der große Topf auf dem schmiedeeisernen Ofen sieht aus wie der, den der alte Mann getragen hat.

Die NGO Naturfreunde Nepal, Sektion Pokhara empfiehlt pro Träger eine Last von zwölf bis 20 Kilogramm am Tag. Ab 5.000 Höhenmeter sollte sich die Last auf vier bis fünf beschränken. Das ist weit von den standardisierten 30 Kilogramm entfernt, die von einigen Trekkingagenturen trotz gesetzlicher Richtlinien überschritten werden.5 Ein Gesundheitsrisiko stellt dabei nicht nur die dauerhafte Belastung dar, die über ein Band, das über die Stirn gelegt wird, auf den Körper wirkt, sondern auch verringerte Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit.

Es ist nicht leicht, dem Märchen des Tourismus zu erliegen, wenn sich diese Tragödie vor den eigenen Augen abspielt. Schwer zu glauben, dass wir hier die Wirtschaft eines der ärmsten Länder der Welt unterstützen und noch schwerer, dass das nichts mit internalisiertem Rassismus zu tun hat, wenn ich drei Männern mit müdem Lächeln dabei zusehe, wie sie die erdrückende Last unserer Privilegien mit bloßer Muskelkraft Tausende Höhenmeter hinauftragen. Auf der anderen Seite des sandigen Weges warte ich darauf, ob der Mann mit seinem Korb noch auftaucht.

Biowein und Klassenkampf

Zwei Wochen später streife ich durch Kathmandu. Am Abend sind wir mit dem Geschäftsführer unserer Trekkingagentur zum Abschlussessen verabredet. Doch es ist noch Zeit. Also: Souvenirshopping. Bald darauf finde ich mich in einer merkwürdigen Parallelwelt wieder. Gemeinsam mit Yogatouristen und buddhistischen Mönchen stöbere ich durch Läden voller Räucherstäbchen, Gebetstücher und Kamasutra-Kartenspielen. Bevor ich mich entscheiden kann, ob das noch geschicktes Marketing oder schon kulturelle Aneignung plus Entweihung ist, muss ich los.

Wir werden vom Hotel abgeholt. Während das Auto sich durch die engen Gassen Kathmandus schlängelt, werden diese langsam weniger holprig, weniger dreckig, weniger voll. Erdbebenruinen werden zu modernen Villen. Als wir halten, führt der Sohn des Geschäftsführers uns ins Haus. »Das ist von meiner Uni in Australien«, erklärt er und deutet dabei auf eine gerahmte Universitätsurkunde an der Wand. Ich gucke genauer hin: Master in Tourismus Management. Bei dem nächsten Bild kann ich meine Überraschung kaum verbergen. »Ist das Hillary Clinton?« Unsere kleine Gruppe schart sich wie Groupies um das Bild. Die Antwort ist nur ein höfliches Nicken. Die Frage kommt anscheinend oft.

Kurze Zeit später sitzen wir auf einer wunderschönen Dachterrasse und bekommen ein Viergängemenu serviert. In meinen Wanderklamotten fühle ich mich fehl am Platz. Die pulsierende Stadt breitet sich wie ein schimmernder Teppich vor unseren Augen aus. Man kann sogar den ehemaligen Königspalast sehen. Während mir Wein aus der privaten Winzerei unseres Gastgebers eingeschenkt wird, muss ich an die 17 Prozent der Bevölkerung denken, die in absoluter Armut leben6.

Zehn Jahre hat die maoistisch-kommunistische Partei Nepals für die Freiheit des Landes gekämpft. Doch Korruption, verstaubte Verwaltungsstrukturen, die Relikte des Kastensystems und eine Spaltung der Linken in die maoistische und die marxistisch-leninistische Partei erschweren es, den Status quo des Landes zu überwinden. Bis das nicht passiert ist, sind die einzigen, die vom Tourismus im Land profitieren, Angehörige der herrschenden Klasse, während die arbeitende Bevölkerung genauso wie die Natur des Landes ausgebeutet werden. Die reichsten Länder der Welt treiben den Planeten immer weiter an den Abgrund, und die Bewohner Nepals bezahlen den Preis, – nur der Geschäftsführer unserer Trekkingagentur nicht.

Am Horizont versinkt der Himalaja langsam im Schwarz der Nacht. Ich trinke einen Schluck von meinem Biowein. Der schmeckt fahl wie mein schlechtes Gewissen. Fast zwanzig Jahre nach Ende des Bürgerkriegs ist der Kampf noch immer nicht gewonnen. Die Sonne geht unter und ich frage mich, wann der Imperialismus in den Bergen endlich zerfällt und ob das Märchen des Tourismus je ein Happyend finden kann.

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