»Derzeit warten mehr als 10.000 Menschen auf einen Rollstuhl«
Interview: David Siegmund-SchultzeMabel Ballesteros, Sie sind Präsidentin des kubanischen Verbands für körperlich limitierte (span.: »limitados«, jW) Menschen.
Der Verband wurde in den 1980er Jahren unter diesem Namen gegründet. Heute haben wir unseren Namen geändert.
Aus welchem Grund erfolgte die Änderung?
Wir haben uns damit an die Anforderungen und Grundsätze des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen angepasst. So bin ich heute die nationale Präsidentin des kubanischen Verbands für Menschen mit körperlichen und motorischen Behinderungen (span.: »discapacidades«, jW). Wir sprechen von Menschen. Von »limitierten« Menschen zu sprechen ist abwertend.
Wann wurde der Name offiziell geändert?
Wir verwenden den Begriff seit Kuba die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2007 unterzeichnet und ratifiziert hat. Wir waren der Meinung, dass die Konvention, die über der nationalen Gesetzgebung steht, uns das Recht gab, den Begriff zu verwenden, auch wenn das Justizministerium der Republik Kuba die Namensänderung der Vereinigung noch nicht genehmigt hatte. Das ist aber 2024 passiert und jetzt ist die Änderung auch offiziell.
Was sind die Ziele Ihres Verbandes und woran arbeiten Sie?
Unsere grundlegende Aufgabe ist die Verteidigung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Diese Arbeit wird in verschiedenen Programmen verwirklicht und ermöglicht die soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderung sowie ihre effektive Teilnahme am wirtschaftlichen und kulturellen Leben der kubanischen Nation. Der erste und für uns wichtigste Schwerpunkt ist der Gesundheitsbereich. Hier unterstützen wir Programme, die die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung verbessern, ihre psychosoziale Entwicklung fördern und die Bedürfnisse berücksichtigen, die sich aus der Behinderung ergeben.
Das dürfte ein weites Spektrum der Unterstützung umfassen. Was gehört alles dazu?
Dazu gehören die medizinische und klinische Versorgung, Physiotherapie, körperliche Rehabilitation und psychische Gesundheit. Besonders die Beschaffung von technischen Hilfsmitteln ist wichtig, weil sie die Voraussetzung dafür sind, dass Menschen mit Behinderungen am sozialen Leben teilhaben können. Das hat schon mit dem zweiten Arbeitsschwerpunkt zu tun, nämlich der Integration in das Gemeinschaftsleben. Hier gibt es Programme zur sozialen Eingliederung durch Sport und Erholung. Wir fördern außerdem alle Ausdrucksformen und Freizeitaktivitäten, die Menschen mit Behinderungen ein erfülltes Leben in der Gemeinschaft ermöglichen.
Der dritte Schwerpunkt ist Eingliederung in das Wirtschaftsleben. Die zielt im wesentlichen auf alle unternehmerischen Tätigkeiten ab, die Menschen mit Behinderung ausüben, um sich selbst zu versorgen, wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit zu erlangen, eine Beschäftigung zu finden und sich weiterzuentwickeln.
Wie gestaltet sich im allgemeinen das Leben für Menschen mit Behinderung derzeit in Kuba? Welche Probleme gibt es?
Zunächst muss man sagen, dass es eine Priorisierung für uns als die am stärksten gefährdete und vulnerable Bevölkerungsgruppe gibt. Eine Person mit Behinderung leidet logischerweise mehr als eine ohne; hat weniger Zugang und Möglichkeiten, weil eine Behinderung einem viele Dinge nicht erlaubt. Aber wir hatten das Privileg, dass die Kubanische Revolution für die Sozialpolitik des Landes erreichte, dass niemand ausgeschlossen wird. Deshalb ist die rechtliche Situation von Menschen mit Behinderungen heute in Kuba die gleiche wie die aller Menschen ohne Behinderung.
Trotzdem gibt es Probleme, die sich in letzter Zeit verschärft haben, auch wenn es viele öffentliche Maßnahmen gibt, die auf die Betreuung und soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen abzielen und unsere Bedürfnisse priorisiert werden. Aber weil es keine finanziellen Mittel gibt, ist das Programm für technische Hilfsmittel für die Mobilität weitgehend zum Erliegen gekommen. Genauso steht die medizinische Versorgung vor großen Problemen, weil es keine Medikamente gibt. Trotz der schwierigen Lage sorgt die Regierung für die Beschaffung von Medikamenten für sehr komplexe Krankheiten wie Krebs. Und auch für Menschen mit Behinderung versucht sie, die entscheidenden Hilfsmittel zu beschaffen, die das Leben für uns ermöglichen, wie zum Beispiel Hörgeräte, Orientierungsstöcke, Rollstühle, Prothesen und dergleichen.
Für unsere Arbeit genießen wir hohes Ansehen und bei der Gestaltung nationaler Gesetzgebung konnten wir die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einbringen. Trotz alledem gibt es sehr viel Mangel.
Können Sie ein Beispiel geben?
Zum Beispiel Rollstühle. Die sind für uns unerlässlich. Wenn ich keinen Rollstuhl habe, habe ich keine Lebensqualität. So wie ich keine Lebensqualität ohne oder mit einer schlechten Prothese habe. Das gilt auch für Medikamente oder Nahrung, die ich brauche, um gesund zu bleiben. In all diesen Bereichen herrscht Mangel.
Was die Rollstühle betrifft, können Sie den Mangel beziffern?
Derzeit warten mehr als 10.000 Menschen in Kuba auf einen Rollstuhl. Viele Menschen, die zwar familiäre oder institutionelle Unterstützung erhalten, leben dennoch mit sehr schlechten Rollstühlen, weil uns auch das Material fehlt, um sie zu reparieren. Es ist sehr schwer, die notwendigen Materialien zu beschaffen, auch wenn es sie in der Dominikanischen Republik oder in Mexiko gibt, also ganz in der Nähe. Aber die Blockade hindert uns daran, sie zu erhalten. Und Kuba muss sehr viel Geld ausgeben, um diese Materialien erwerben zu können. Wenn es einen wirtschaftlichen Aufschwung gäbe und die finanziellen Mittel in das Land zurückfließen würden, würden unsere Bedürfnisse gedeckt werden. Noch bis vor kurzem gab es niemanden, der auf einen Rollstuhl warten musste. Es gab auch eine gezielte staatliche Fürsorge im Bereich der Lebensmittel sowie der sozialen und gesundheitlichen Versorgung, die es heute in der Form nicht mehr gibt. Einfach, weil die finanziellen Mittel dafür fehlen.
Die Blockademaßnahmen durch die USA bestehen seit den 60er Jahren, unmittelbar nach der Kubanischen Revolution. Aber US-Präsident Donald Trump hat die Sanktionen kürzlich nochmals drastisch verschärft. Welche Auswirkungen hat das für Menschen mit Behinderung?
Schon die erste Amtszeit von Trump hatte fatale Konsequenzen. 2018 war die Situation unserer Vereinigung nicht die heutige. Parallel zum Auftreten der Covid-19-Pandemie hatte die US-Regierung damals die Blockade verschärft und neue Sanktionen gegen Kuba eingeführt. Diese Maßnahmen treffen nicht nur die Regierung, sondern die gesamte Bevölkerung. Also auch uns, die mehr als 200.000 Menschen mit Behinderung in Kuba. Davon sind etwa 100.000 Menschen Mitglieder in unserer Vereinigung. Das heißt, ich trage Mitverantwortung für eine bedeutende Bevölkerungsgruppe, die stark gefährdet ist und deren grundlegenden Menschenrechte aufgrund der US-Blockadepolitik gegen Kuba verletzt werden.
Vor 2018, als die Blockade noch weniger hart war, es aber natürlich trotzdem Mangel gab, hatte es die Regierung nie versäumt, uns den Kauf von Rollstühlen zu ermöglichen. Aber seit 2018 konnten wir keinen einzigen mehr kaufen. Die Lage hat sich also dramatisch verschlechtert und Menschen mit Behinderung leiden besonders darunter.
Die neue US-Regierung treibt außerdem die Auflösung von USAID voran, die in der Vergangenheit große Summen in der »Entwicklungshilfe« gestemmt hat. Hat dieser Schritt Auswirkungen auf die Arbeit Ihrer Vereinigung?
Nein, denn die Mittel von USAID waren für Kuba nie verfügbar. Dieses Geld war immer an Bedingungen geknüpft und es wurde versucht, das als Verhandlungsmasse einzusetzen. Deshalb hatte unsere Vereinigung nie einen Nutzen aus USAID-Mitteln. Denn wenn es darum ginge, die nationale Souveränität zur Verhandlung zu stellen, würden wir das nie zulassen. Deswegen interessiert mich nicht, was mit USAID passiert. Alles, was wir wissen, ist, dass diese Gelder dafür verwendet wurden, die verschärfte Blockadepolitik gegen Kuba zu unterstützen, die gerade uns als Menschen mit Behinderung trifft.
Finanzielle Unterstützung aus den USA für Kuba diente immer nur dazu, Verwirrung zu stiften und Menschen zu bezahlen, die gegen die Regierung und gegen die Bevölkerung handeln. In den Organisationen zum Schutz von Menschen mit Behinderung in Lateinamerika und der Karibik und auch auf globaler Ebene wird die Auflösung von USAID gerade viel diskutiert. Einige versuchen, Druck auszuüben, damit ihre Finanzierung nicht einbricht, denn in anderen Ländern gingen die Mittel der USAID direkt an Menschen mit Behinderung. Ich kann sie verstehen: Wer USAID-Mittel bekommen hat, soll dafür kämpfen. Aber für uns hat USAID noch nie Rollstühle finanziert.
Am vergangenen Woche haben Sie am dritten Weltgipfel für Menschen mit Behinderung, dem Global Disability Summit, in Berlin teilgenommen. Wie zufrieden sind Sie mit dem Kongress?
Wir hatten das Privileg, im Rahmen des Gipfels an dem regionalen Treffen teilzunehmen, bei dem die Organisationen Lateinamerikas und der Karibik vertreten waren. Bei diesem Regionaltreffen haben wir den Kern dessen formuliert, was als Abschlussdeklaration des gesamten Gipfels verkündet wurde: Der Anteil der Entwicklungshilfeprogramme, die Inklusion von Menschen mit Behinderung zum Ziel haben, wird bis 2028 auf 15 Prozent erhöht. Jedoch ist es utopisch, zu denken, dass alle Staaten das umsetzen können.
Aber zurück zu Ihrer Frage: Durch einen Gipfel wie diesen können wir die Realität, die in allen Regionen der Welt erlebt wird, aus erster Hand erfahren. Wir konnten viele Kontakte mit Menschen aus der Bewegung knüpfen, denn nahezu alle relevanten Organisationen, die sich mit dem Thema Behinderung befassen, waren anwesend. Dabei wird einem bewusst, dass die Bewegung zur Verteidigung unserer Rechte in den zurückliegenden Jahrzehnten und Jahren weltweit größer und mächtiger geworden ist. Wir haben gesehen, dass eine neue Generation dazugekommen ist, die diese Bewegung anführt. Das gibt uns Genugtuung, weil wir wissen, dass der Kampf weitergeht.
Sie haben die UN-Konvention bereits angesprochen. Wie weit ist deren Umsetzung weltweit mittlerweile gekommen?
Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird immer rigider umgesetzt, auch wenn es immer noch Staaten gibt, die sie entweder gar nicht ratifiziert haben, oder keinen Plan entwickelt haben, wie die Inklusion umgesetzt werden soll. Weil wir sehr auf unsere Region fokussiert sind, sind wir uns dieser internationalen Entwicklungen oft nicht bewusst.
Dennoch dürften Sie einen Vergleich der jeweiligen nationalen Entwicklung ziehen können?
Der Kongress gibt uns die Möglichkeit der Selbstreflexion und des Vergleichs mit anderen Ländern und ihren politischen Ansätzen. Ein direkter Vergleich ist immer schwierig, weil man den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungskontext jedes Landes berücksichtigen muss. Trotzdem hilft es uns, um zu analysieren, was wir noch zu tun haben. Beim Regionalgipfel haben wir uns dafür eingesetzt, dass die zivilgesellschaftlichen Gruppen zum Thema Behinderung jedes Landes vereint werden. Es sollte nicht vier, fünf oder sechs Organisationen geben, die unterschiedliche Dinge fordern. Der Fokus sollte immer auf der Verteidigung und Stärkung der Rechte von Personen mit Behinderung liegen – und darauf, das von den Regierungen einzufordern.
Es muss Druck ausgeübt werden, damit die Administrationen in der Region Aktionspläne aufstellen, um die Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und Armut von Menschen mit Behinderung anzugehen. Hierzu haben wir als kubanische Delegation viel beigetragen. Außerdem ist es sehr wichtig, dass wir die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, kurz CELAC, als geeinte Stimme erreichen und dass unsere Forderungen an die CELAC die notwendige Kraft haben.
Was zählen Sie zu den wichtigsten Forderungen zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen?
Keine Gesetzgebung über uns sollte über unsere Köpfe hinweg beschlossen werden. Dafür haben wir uns eingesetzt, auch weil es in vielen Ländern keine starke Bewegung gibt. Es fehlt oft an Solidarität und Einheit der Organisationen. Viele Gruppen werden ausgeschlossen. In einigen Ländern werden bestimmte Verbände von der Regierung alimentiert, während andere keine Stimme haben und auf der Straße betteln müssen.
Darüber hinaus haben wir auf dem Regionalgipfel über das Thema Krieg gesprochen. Wir alle setzen uns dafür ein, dass der komplexe Konflikt in Kolumbien gelöst wird. Und es war genugtuend zu sehen, dass die Bewegung geschlossen gegen den Krieg ist; vor allem gegen den im Gazastreifen, in Palästina.
Und das kam auf dem Kongress zum Ausdruck?
Absolut! Es gibt bei den Vereinten Nationen viele Überschneidungen zwischen Projekten zu dem Thema Behinderung und solchen, die sich mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt und der Situation im Gazastreifen befassen. Es gab eine eindeutige Solidaritätsbekundung mit den Palästinensern. Denn wozu führt der Krieg? Behinderung und Tod. Und wir kämpfen immer dafür, das zu verhindern. Krieg und Behinderung sind eng miteinander verbunden. Heute hat Behinderung weltweit drei Hauptursachen: Die erste ist das Fehlen einer öffentlichen Politik für die soziale und gesundheitliche Fürsorge und der fehlende Zugang zum Gesundheitssystem. Es gibt Kinder, die aus diesem Grund mit einer Behinderung geboren werden. Die zweite Ursache sind Hunger, Armut und Unterernährung; auch hier sind Behinderungen eine direkte Konsequenz. Und die dritte Ursache sind Kriege, die zu dauerhaften Verletzungen führen – Kriege hinterlassen Menschen, die nicht nur unter dem Leben mit einer Behinderung leiden, sondern auch psychische Leiden haben, die sich auf die Familie und die Gemeinschaft auswirken.
Sie haben von politischen Ansätzen aus anderen Ländern gesprochen, von denen Sie lernen konnten …
Ja, zum Beispiel gibt es viele Erfahrungen in der technologischen Entwicklung und der Gesundheits- und Sozialfürsorge. Dinge, die Kuba sich leisten könnte, wenn es eine höhere wirtschaftliche Entwicklung im Land gäbe.
Ist das auch als Kritik an der Regierung in Havanna zu verstehen?
Unter den derzeitigen Bedingungen tut die kubanische Regierung, was sie kann und was die Bevölkerung braucht.
Bot Ihnen der Kongress Anlass zur Kritik?
Ich habe bei einer Sitzung auf dem Kongress gesagt, dass es ein Gipfel der Ersten Welt war. Ich halte es für falsch, dass es keinen Raum für die Länder mit geringerem wirtschaftlichen Entwicklungsstand gab. Es hätte ein Panel organisiert werden sollen, das sich speziell mit der Situation und den Bedingungen in diesen Ländern befasst. Die Rezepte, die hier für Europa zu Erfolg führen, passen oft nicht zu den armen Ländern. Die Technologie der Ersten Welt ist sehr kostspielig und für uns nicht zugänglich. Deshalb erreichen sie sehr viele Menschen mit Behinderung nicht. Man lebt sein ganzes Leben ohne Prothese, weil man sie sich nicht leisten kann und es keine Regierung gibt, die die Möglichkeit hat, sie zu kaufen. Und deshalb glaube ich, dass die Entwicklungshilfe und die internationale Zusammenarbeit viel mehr die am stärksten gefährdeten Weltregionen in den Blick nehmen müsste.
Mabel Ballesteros López ist 1964 in Kuba geboren. Die Anwältin ist seit 1981 beim Kubanischen Verband für Menschen mit körperlichen und motorischen Behinderungen (ACLIFIM)
aktiv und seit 2010 dessen Präsidentin. Seit Oktober 2012 ist sie Regionaldirektorin des lateinamerikanischen Netzwerks von NGOs für Menschen mit Behinderung und ihren Familien (RIADIS).links & bündig gegen rechte Bünde
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