Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 12.04.2025, Seite 8 (Beilage) / Wochenendbeilage

Fiaker

Von Maxi Wunder

Die beste Jahreszeit taugt nichts. Auf die Winterdepression folgt Frühjahrsmüdigkeit, dann kommt die hitzebedingte Sommerschlappe, abgelöst vom Herbstblues. Der wiederum geht nahtlos in den Januarfrust über – ein Teufelskreis, den Nordländer mit stimmungsaufhellendem Koffein zu durchbrechen suchen. 450 Tassen Kaffee trinken die Deutschen geschätzt pro Jahr und landen im europäischen Ranking auf einem mittleren achten Platz. Die Luxemburger halten den Rekord mit 925 Tassen, ihnen folgen die Niederlande und Skandinavien. Erst an siebenter Stelle rangiert Österreich, was bei der ausdifferenzierten Kaffeekultur des Landes verwundert.

Seit 2011 gehört die Wiener Kaffeehauskultur zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. So geht man in Wien nicht einfach Kaffeetrinken, sondern trifft sich bei einem Verlängerten oder einer Mélange. Man schlürft Einspänner, kleine und große Braune oder Schwarze. Der kleine Schwarze heißt auch Mokka und unterscheidet sich vom Espresso in der Zubereitung und der Bohnensorte. Er braucht etwas mehr Wasser, und seine Bohnen stammen meist aus dem Jemen oder Äthiopien. Der Franziskaner ist eine Leckerei mit Milch, Sahne und Schokostreuseln. Biedermeier und Fiaker enthalten Schnaps, der Biedermeier Marillenlikör, der Fiaker Sliwowitz, Rum oder Kirschwasser. Das Koffein verengt die Blutgefäße, der Alkohol weitet sie wieder. Beim Kaffee mit Schuss ist der Körper also hin- und hergerissen zwischen Power und Pennen und senkt den Blutdruck ab – ideal zum Zeitunglesen.

Fiaker:

Etwas Zucker in die Tasse geben, darauf einen doppelten Espresso gießen und einen Schuss Sliwowitz.

Das Frühjahr hat einen ähnlichen Effekt: Infolge der Temperaturschwankungen verengen und weiten sich die Blutgefäße im Wechsel von Kälte und Wärme. Dadurch fällt der Blutdruck ab, Müdigkeit und sogar Schwindel können die Folge sein, was meist zum Inhalt der Zeitung passt und obendrein performancetauglich ist. Die Schlagzeile »Panik an den Aktienmärkten – Trump bringt den Black Friday zurück!« etwa eignet sich optimal, um bei der Lektüre wirkungsvoll vom Kaffeehausstuhl zu kippen.

Dabei könnten auch Hormone schuld sein: Im Winter wird viel Melatonin ausgeschüttet, weil es bei Dunkelheit entsteht. Werden die Tage im Frühling länger, nimmt die Melatoninproduktion ab, und die Ausschüttung von Serotonin nimmt zu, ein Hormon, das für die Aktivität des Körpers und für gute Laune zuständig ist. So kommt es zu einem vorübergehenden Ungleichgewicht der hormonellen Gegenspieler Mela- und Serotonin, worauf Menschen wiederum mit Müdigkeit reagieren und selbst auf Partys, beim Sex und in Bewerbungsgesprächen exzessiv gähnen.

Eine gute Gelegenheit, Frühjahrsmüdigkeit zu kultivieren, ist der Einberufungsbefehl. Nach Einnahme einiger »Biedermeier« gibt man bei der Musterung im Frühjahr das Bild eines zitternden hypotonischen Männleins ab, das bei der kleinsten Anforderung in Ohnmacht fällt. Gut so.

Biedermeier:

Einen doppelten Espresso zubereiten, etwa die gleiche Menge heiße Milch hinzugeben, mit Schlagobers markieren und 2 cl Marillenlikör über das Obers gießen.

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