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Aus: Ausgabe vom 15.04.2025, Seite 4 / Inland
Konferenz zu Gaza

Krieg gegen Hörsäle

Universität Hamburg: Konferenz zur Zerstörung des Bildungssystems in Gaza
Von Dieter Reinisch, Hamburg
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Ehemaliger Hörsaal der Islamischen Universität Gaza (12.4.2025)

»Alternativen gegen die Kriegshysterie in der Wissenschaft aufzeigen« – so erklärt Florian Muhl, Organisator der Konferenz »Academia Under Attack«, den Zweck der zweitägigen Veranstaltung, die am Wochenende an der Universität Hamburg stattfand. Organisiert wurde sie vom Referat für internationale Studierende des Hamburger AStA. »Wir tragen eine gesellschaftliche Verantwortung für unsere Kollegen in anderen Weltteilen. Solidarität mit Gaza heißt: Stoppt die Bomben«, erklärte John Lütten, Mitglied des Veranstalterteams, in seiner Eröffnungsrede am Sonnabend. »Wir studieren nicht, um für Militarisierung und Rüstung Forschung zu machen«, betonte er: »Die Solidarität mit Palästina hat uns zusammengebracht.«

Wesam Amer war einer der geladenen Referenten – neben dem Musiker Michael Barenboim und Yusuf Sayed von der Universität Cambridge. Amer war zu Beginn des aktuellen Kriegs im Oktober 2023 Dekan an der Universität Gaza. Er konnte die Küstenenklave noch rechtzeitig verlassen und bekam ein Stipendium an der Universität Cambridge. Andere Kollegen hatten weniger Glück: 6.000 Universitätsstudierende wurden in Gaza seit Oktober 2023 laut UN-Angaben getötet, doch »die tatsächliche Zahl ist sicherlich weit über 10.000«, vermutet Amer – mehr als zehn Prozent der 95.000 Studierenden im Küstenstreifen. 221 Dozenten und über 100 Pro-fessoren wurden ebenfalls getötet.

Unter den Getöteten sind auch Amers Kollegen Heba Abadllah und Wesam Issa: »Er erhielt dasselbe Stipendium wie ich in Cambridge, konnte Gaza aber nicht verlassen. Nun ist er tot«, erzählt Amer über Issa. Er frage sich oft, wie es ihm ergangen wäre, wenn er in Gaza geblieben wäre und nicht rechtzeitig hätte fliehen können. »Ich wäre wohl ebenso nicht mehr am Leben.« Wegen solcher Schicksale sagt John Lütten: »Unsere Konferenz kommt zu spät, es gibt keine Forschung mehr in Gaza.« Die Vernichtung des Bildungs- und Wissenschaftssystems bezeichnet er als »Kriegsverbrechen«.

Diese systematische Zerstörung der Wissenschaftsinfrastruktur, die Verhaftung, Inhaftierung oder Tötung von Lehrkräften, Schülern und Mitarbeitern sowie die Zerstörung der Bildungsinfrastruktur könnte laut UNO einen »Scholastizid« darstellen. Da »mehr als 80 Prozent der Schulen in Gaza beschädigt oder zerstört sind, stellt sich die Frage, ob es sich um einen gezielten Versuch handelt, das palästinensische Bildungssystem umfassend zu zerstören«, schreiben UN-Experten in einem Bericht vom April vergangenen Jahres.

Lütten sieht darin die »gezielte Fortsetzung der Nakba«. Mit dem arabischen Wort für Katastrophe wird die Vertreibung der Palästinenser vor und nach der Staatsgründung Israels 1948 bezeichnet. Man trage eine gesellschaftliche Verantwortung, »auch für unsere Kollegen in anderen Weltteilen«, betont Lütten. Von deutschen Universitäten fordert er, Partnerschaften mit Hochschulen in Gaza einzugehen, um den Wiederaufbau mitzufinanzieren, sowie politische Stellungnahmen gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit von propalästinensischen Studierenden und Lehrenden auf der ganzen Welt. Die Repression gegen die palästinasolidarische Bewegung in Deutschland werde im Zuge »allgemeiner Kriegsvorbereitungen an den Schulen und Universitäten stärker«, warf eine Person aus dem Publikum ein. Besonders die Abschaffung der Zivilklauseln wird von Konferenzteilnehmern kritisiert.

»Wir haben eine Alternative und die ist gemeinsame Sicherheit. Denn wir sind nur sicher, wenn sich der andere auch sicher fühlt«, appelliert der Politikwissenschaftler Werner Ruf von der Universität Kassel. Die zu garantieren sei die Rolle von Wissenschaft in der »Zeitenwende«. Diesem Appell schloss sich auch Norman Paech von der Universität Hamburg an: »Wissenschaftsfreiheit muss immer wieder neu erkämpft werden.« In Zeiten des Kriegs, an dem sich alle europäischen Staaten beteiligen, sei Frieden die zentrale Aufgabe der Wissenschaft.

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