Das Streben nach Glück
Von Klaus-Detlef Haas
Bei der Beisetzung der sterblichen Überreste des großen DDR-Schauspielers Eberhard Esche 2006 gingen Ursula Karusseit und Manfred Krug in der letzten Reihe zum Grab. Sie bewegten sich sehr langsam fort, denn die Karusseit musste Krug Hilfe leisten, er ging an Krücken. Ich sprach die beiden an: »Was für ein Bild: Gertrud Habersaat stützt Willi Heyer!«
Das waren Protagonisten des Fünfteilers »Wege übers Land«, inszeniert nach dem Roman von Helmut Sakowski, den der Fernsehfunk der DDR vom 22. bis 29. September 1968 ausstrahlte. Es war tatsächlich ein »Straßenfeger«. Die durchschnittliche Einschaltquote betrug 77,7 Prozent, etwa 7,8 Millionen sahen zu.
Die ARD-Mediathek annotiert den Mehrteiler heute so: »Das ambitionierte Projekt rund um die NSDAP-Sympathisantin Gertrud Habersaat …« Das zeugt mindestens von Ignoranz und Überheblichkeit. Tatsächlich zeigt das Stück das Leben der Gertrud Habersaat, Tochter eines Tagelöhners, die sich beim Großbauern Leßtorff als Magd verdingt und den Hof im Krieg mit ihrem Verantwortungsgefühl am Leben hält. All ihren Erwartungen stehen Klassen- und Eigentumsverhältnisse entgegen: So findet sie sich mit ihrem Mann Emil Kalluweit auf einem Gut im »Generalgouvernement«, dem deutschbesetzten Polen, dessen eigentliche polnische Besitzer vor ihren Augen durch die Wehrmacht vertrieben werden. Nach dem Krieg in ihr Heimatdorf Rakowen zurückgekehrt, bewirtschaftet sie einen Hof, allein mit ihren drei Kindern. Sie lebt später mit Willi Heyer zusammen, der als »roter Bürgermeister« die Kollektivierung im Dorf vorantreibt.
In Polen hatte Gertrud Habersaat zwei jüdische Kinder gerettet. Es ist ein phantasievoller Einfall der Adaption des Stoffes am Landestheater Neustrelitz, diese zunächst als Puppen durch Darsteller führen zu lassen, die später auch die herangewachsenen Kleinen spielen. Die Inszenierung von Regisseur Maik Priebe ist ein theatrales Gesamtkunstwerk von Licht, Musik, Bühnenbild und Ensembleleistung (samt Technik!), das es vermag, die Aktualität der Geschichte herauszuarbeiten: das Streben nach Glück und Selbstverwirklichung in der Gesellschaft – nicht auf deren Kosten. Beteiligte an diesem 40 Jahre währenden Versuch sitzen im Publikum und fühlen sich ernst genommen.
Die Mutter Habersaat wird von Angelika Waller gegeben. Ich weiß nicht, wovon man mehr ergriffen ist – von ihrer hohen Schauspielkunst, ihrer Intelligenz oder ihrer Schönheit. Sie zeigt die alte Habersaat als ein vom Leben benachteiligtes, schlau nach jedem Vorteil schnappendes, krankes Wesen. Eindrückliche schauspielerische Leistungen bieten auch Stephanie Schönfeld (Gertrud Habersaat) und Erik Born (Willi Heyer) sowie Karin Hartmann, Thomas Pötzsch und Thomas Harms, die in mehreren Rollen auftreten. Überhaupt ist die Spielfreude des gesamten Ensembles bewunderungswürdig. Das gerade ob seines Minimalismus wirkungsvolle Bühnenbild stammt von Susanne Maier-Staufen. Nur der etwas manieriert erscheinende Einfall, die Schönfeld im letzten Teil mehrfach denselben Text wiederholen zu lassen, erschließt sich nicht recht – ein (einziger) Wermutstropfen. Die fast fünfstündige Inszenierung wurde dennoch mit enormer Begeisterung, ja, Anteilnahme aufgenommen.
»Wenn wir weiter so klatschen«, sagte die Zuschauerin neben mir während des minutenlangen stehenden Applauses, »werden sie eine Zugabe geben müssen«. »Ja«, erwiderte ich: »Mit Druskat.«
Nächste Vorstellungen: 29. April, 1. und 23. Mai 2025
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