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Aus: Ausgabe vom 16.04.2025, Seite 8 / Ansichten

Im freien Fall

Abschaffung des Arbeitszeitgesetzes
Von Gudrun Giese
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An der Stechuhr bei der Firma Pohlschröder in Dortmund (1.8.1974)

Was den künftigen Koalitionären aus CDU, CSU und SPD die Rechte der abhängig Beschäftigten bedeuten, lässt sich knapp beantworten: nichts. Deutlich macht das etwa der Konsens der Parteienvertreter zur Schleifung des Arbeitszeitgesetzes. Für ein paar Zehntelprozentpunkte »Wirtschaftswachstum« verkauft die SPD ihre allerletzten Grundsätze.

Worum geht es bei der Neuregelung der Arbeitszeit? Um nicht weniger als die Abschaffung eines Schutzgesetzes, denn der Achtstundentag, seit 1918 in Kraft, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die tägliche Arbeitszeit begrenzt ist, dass Beschäftigte ein Anrecht auf Feierabend und Erholung haben. Mit der nun vorgesehenen Wochenhöchstarbeitszeit, legitimiert durch eine EU-Regelung, ist dem Wildwuchs Tür und Tor geöffnet. Überlange Arbeitstage werden möglich, ebenso können Beschäftigte auch mal vorzeitig nach Hause geschickt werden, wenn wenig zu tun ist. Angeblich wollen nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Beschäftigten mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit, begründen die künftigen Koalitionäre ihren Beschluss. Doch Angestellte haben in der Praxis wenig bis nichts von »flexibler« Arbeitszeit. Im Extremfall des aus den USA stammenden Modells »Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit«, kurz: Kapovaz, können Beschäftigte dann jederzeit zum Einsatz gerufen werden. So etwas passiert heute vor allem im Einzelhandel, wo es fast nur noch Teilzeitstellen gibt und viele – vorwiegend weibliche – Lohnabhängige auf Mehrarbeit angewiesen sind, so dass sie auch zähneknirschend Kapovaz in Kauf nehmen.

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi kritisierte erwartungsgemäß die Pläne von CDU/CSU und SPD zur Abschaffung des Achtstundentages, verwies aber auch auf die vielen schon bestehenden Ausnahmeregelungen, nach denen Beschäftigte etwa an vier Tagen vierzig und in einer Woche sechzig Stunden arbeiten können. Bei Rufdiensten, die viele Mitarbeiter in Krankenhäusern, bei der Feuerwehr und lebenswichtigen Versorgungseinrichtungen betreffen, gibt es ebenfalls Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz en masse. Es würde einer DGB-Vorsitzenden gut anstehen, die vielen Abweichungen vom Gesetz anzugreifen und nicht nur pflichtgemäß die Pläne der potentiellen Koalitionäre zu kritisieren. Dass nun ausgerechnet die Gewerkschaft Verdi mit dem Abschluss des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen »freiwillige Erhöhungen« der Arbeitszeit auf bis zu durchschnittlich 42 Wochenstunden zulässt, ist in der aktuellen politischen Situation fatal. Auch wenn diese Erhöhungen befristet sind, kann eine solche Regelung schnell eine Eigendynamik entfalten, so dass sich schon bald immer mehr Beschäftigte zur »freiwilligen« Arbeitszeitverlängerung genötigt sehen könnten. Die Aussichten sind mies.

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