Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 01.04.2025, Seite 5 / Inland
Angriff auf Höchstarbeitszeit

Arbeiten ohne Ende

Politik und Kapital wollen Höchstarbeitszeit »flexibler« machen. Öffentlicher Dienst als Türöffner
Von Gudrun Giese
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Gewerkschafter zeigen die rote Linie auf: Protestaktion der IG Metall vor dem Kanzleramt am 29. März

Der Fach- und Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik versetzt Unternehmen und Politik in Panik. Die vorhandenen Beschäftigten sollen deshalb mehr und vor allem »flexibler« arbeiten, ist die Kernaussage dieser – nicht wirklich neuen – Ideen.

Von der Abschaffung eines Feiertages war bereits die Rede, und nun möchten CDU/CSU und SPD im Zuge ihrer Koalitionsverhandlungen für eine künftige Bundesregierung auch mit der täglichen Höchstarbeitszeit von acht Stunden Schluss machen. Im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie könne es hier Änderungen geben, befanden die Parteien laut AFP in ihrem Sondierungspapier. Allerdings solle kein Beschäftigter gegen seinen Willen zu längeren Arbeitszeiten gezwungen werden dürfen.

Ob es in der Praxis funktioniert, dass ein Mitarbeiter sich der Anordnung des Vorgesetzten zur Mehrarbeit verweigert? Ziemlich unwahrscheinlich. Ohnehin gibt es längst Ausnahmen von der Acht-Stunden-Regel sowie der wöchentlichen Höchstarbeitszeit, wie Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), gegenüber der Funke-Mediengruppe (Montagausgaben) erklärte. Wer in Rufbereitschaft arbeitet, kann heute schon länger arbeiten, sofern die Mehrarbeit später ausgeglichen wird. Bis zu zehn Stunden täglich an sechs Werktagen seien laut Arbeitszeitgesetz so möglich – »und das soll nicht reichen?« fragte Fahimi.

Die DGB-Vorsitzende warnte die Koalitionäre in spe vor Änderungen. »Das Arbeitszeitgesetz ist keine politische Verhandlungsmasse«, so Fahimi. Vielmehr schütze es die Beschäftigten vor zu großen Belastungen, ermögliche Erholung und Gesundheit auf der Grundlage arbeitsmedizinischer Erkenntnisse. Ohnehin litten viele Mitarbeiter an Überlastung durch zulässige Mehrarbeit. Bei einer weiteren beliebigen Ausweitung der Arbeitszeiten drohe »ein Kollaps«. Statt politischer Eingriffe in das Arbeitszeitgesetz sei mehr Tarifbindung nötig. Wie wirksam die sein könne, zeige das Beispiel Schwedens, wo 88 Prozent der Beschäftigten auf der Basis von Tarifverträgen arbeiten und die wöchentliche Arbeitszeit auf vierzig Stunden begrenzt sei.

Hierzulande könnten hingegen sogar Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der Kommunen und des Bundes tarifvertraglich zu längerer Wochenarbeitszeit genötigt werden. Zumindest nach den Vorstellungen der eingesetzten Schlichter – der ehemalige Bremer Staatsrat Hans-Henning Lühr für die Gewerkschaftsseite, der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) für die öffentlichen »Arbeitgeber« – sollen ab 2026 »freiwillige« Erhöhungen der wöchentlichen Arbeitszeit auf 42 Stunden möglich sein. Neuregelungen empfehlen sie auch für Langzeitkonten, Gleitzeit und zur Arbeitszeit von Rettungsdiensten. Mehr als 2,5 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wären von diesen »Flexibilisierungen« der Arbeitszeit betroffen. Am 5. April wird in der nächsten Runde der Tarifverhandlungen in Potsdam über den Schlichtervorschlag verhandelt.

Ein weiterer umstrittener Vorschlag, der Eingang in das Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD gefunden hat, betrifft steuerliche Vergünstigungen für Mehrarbeit. Damit die sich rentiere, sollen Zuschläge, »die über die tariflich vereinbarte bzw. an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuerfrei gestellt« werden, zitierte tagesschau.de aus dem Sondierungspapier. Auch Teilzeitbeschäftigte sollen mit Steueranreizen zur Ausweitung ihrer Arbeitszeit gelockt werden. Das kritisierte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel gegenüber dpa: »Zusammen mit der offenbar geplanten Abschaffung des Acht-Stunden-Tags ist das ein Giftcocktail für die Gesundheit und Leistungskraft von Beschäftigten.« Da ohnehin mehr als die Hälfte aller Überstunden nicht vergütet würde, brächte eine Steuerfreiheit den Beschäftigten gar nichts. Viele Menschen arbeiteten längst am Limit und könnten nicht noch mehr leisten. Nach dem »DGB-Index Gute Arbeit« sind Überstunden für 44 Prozent der Beschäftigten obligatorisch, bei 10,1 Prozent der in Vollzeit Arbeitenden liegt die Arbeitszeit samt Überstunden bei mehr als 48 Stunden pro Woche.

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