Der verständnislose Patient
Von Holger Römers
Vordergründig sind es Grindr und Tinder, die die Handlung von »Oslo-Stories: Liebe« in Gang setzen. Der Krankenpfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) lernt mittels einer Dating-App den Psychologen Bjørn (Lars Jacob Holm) kennen, zu dem er bald eine intime, wenn auch vorerst platonische Freundschaft knüpft. Tors Vorgesetzte, die Urologin Marianne (Andrea Bræin Hovig), bedient sich der gleichen Digitaltechnik, um ungewohnte sexuelle Unverbindlichkeit auszuprobieren, während sie mit dem Geologen Ole (Thomas Gullestad) eine festere Beziehung anbahnt.
Regisseur Dag Johan Haugerud, der zu seinem fünften Langspielfilm auch das Drehbuch verfasst hat, lässt die beiden Hauptfiguren allerdings nur auf einer Fähre zu besagten Apps greifen, wo digitale Profile jeweils einem realen Gegenüber zuzuordnen sind. Während abendlicher Fahrten zwischen Oslo und einer Vorstadt könnte sich bei den wenigen Passagieren freilich ohnedies Gelegenheit zum Flirt ergeben. Deshalb steht in diesen Szenen unausgesprochen die Frage nach den gegenwärtigen Bedingungen zwischenmenschlichen Kontakts im Raum. Nähe ist jedenfalls das Thema dieses täuschend einfach wirkenden Films: Nähe zu anderen Menschen, aber auch zur umgebenden Stadtlandschaft.
Dasselbe Thema umkreisen freilich auch die anderen Teile der Trilogie, in deren Mitte »Liebe« steht und die Haugerud mit »Sehnsucht« begonnen und mit »Träume«, dem Gewinnerfilm der diesjährigen Berlinale, abgeschlossen hat. Dabei funktioniert jeder Teil für sich, während alle drei einander wunderbar subtil ergänzen. Auf der Handlungsebene gibt es keine konkretere Verbindung, als dass eine der zentralen Figuren von »Liebe« in den beiden anderen Filmen, die ab Mai in deutschen Kinos zu sehen sein werden, am Rande auftritt. Während die Konstellation sich jeweils unterscheidet, beleuchtet die Trilogie mit wechselnder Akzentsetzung die wiederkehrende Frage, inwiefern berufsbedingte persönliche Vertrautheit sich ins Private übertragen lässt.
Dabei misst der 60jährige Filmemacher, der in Norwegen auch als Romancier bekannt ist, dem gesprochenen Wort großes dramaturgisches Gewicht bei. Das macht er uns in »Liebe« deutlich bewusst, indem er in einzelnen Dialogen die urbane Geräuschkulisse gezielt als Störfaktor wirken lässt. Sonst wird das verzweigte Geschehen, das sich in einer Atmosphäre sommerlicher Heiterkeit zuträgt, regelmäßig von musikalisch untermalten Großstadtimpressionen interpunktiert, in denen Oslos Rathaus als Blickanker der Panoramaaufnahmen wirkt.
Zum Fassadenschmuck dieses monumentalen Gebäudes, das Elemente des Neoklassizismus mit neuer Sachlichkeit und Backsteinexpressionismus verbindet, bekommen wir einen regelrechten Vortrag geboten: Mit einer kurzen Führung bewirbt die städtische Angestellte Heidi (Marte Engebrigtsen) nämlich im Kollegenkreis ein Konzept, das sie für ein bevorstehendes kommunales Jubiläum erarbeitet hat. So steht in diesem Film auch früh das abstrakte Thema Bürgerschaft im Raum sowie dessen etwaiger Bezug zu konkreten Aspekten von räumlicher Nachbarschaft und anderen sozialen Gemeinsamkeiten – und Unterschieden.
Bezeichnenderweise kann Heidi sich mit ihren Ideen für eine städtische Feier ebenso wenig verständlich machen wie ihre Jugendfreundin Marianne, als diese einem Patienten die Krebsdiagnose mitteilt. Unter diesen Vorzeichen ist es kein Zufall, dass ein städtischer Angestellter, der seine Vorbehalte gegenüber Heidis Konzept mit der Bemerkung verknüpft, seine eigene Mutter hätte ganz handfeste Erwartungen an die Kommunalverwaltung, offensichtlich einen Migrationshintergrund hat. Dass Mariannes verständnisloser Patient mit den zentralen Figuren dieses Films nicht deren Zugehörigkeit zur Mittelschicht teilt, ist dagegen schon an der bunten Uniform zu erkennen, auf der unübersehbar das Firmenlogo eines Essenslieferdienstes prangt.
»Oslo-Stories: Liebe«, Regie: Dag Johan Haugerud, Norwegen 2024, 119 Min., Kinostart: heute
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