»Die Betroffenen können die Strafen nicht zahlen«
Interview: Kristian Stemmler
Gemeinsam mit dem Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt und zwei Betroffenen hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte beim Amtsgericht Hamburg gegen das Bettelverbot in Bussen und Bahnen des Hamburger Verkehrsverbunds geklagt. Was ist der Hintergrund?
Hintergrund der Klagen ist, dass das in den Beförderungsbedingungen des HVV schon länger enthaltene Bettelverbot vermehrt durchgesetzt wird und bettelnde Menschen mit Strafen in Höhe von 40 Euro belegt werden, die sie nicht bezahlen können. Insgesamt mussten Betroffene im ersten Halbjahr 2024 über 50.000 Euro zahlen. Im Ergebnis führt dies zu einer Verdrängung und Stigmatisierung armutsbetroffener und insbesondere wohnungs- und obdachloser Personen. Mit der Klage wollen wir die Unwirksamkeit des Bettelverbots und der im Falle eines Verstoßes verhängten Vertragsstrafe feststellen lassen und die Grundrechte wohnungs- und obdachloser Menschen in den Blickpunkt rücken.
Sie argumentieren, dass Menschen in Not das Recht haben, friedlich um Hilfe zu bitten.
Das Recht, in Not andere Menschen um Hilfe in Form von Essen oder Geld zu bitten, ist aus unserer Sicht vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht leitet sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit der Menschenwürde ab und schützt auch vor sozialer Isolierung und Stigmatisierung. Das ergibt sich aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes verpflichtet ist. Indem das Bettelverbot lediglich mit dem Wohlbefinden der Fahrgäste begründet wird, wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht bettelnder Menschen verletzt.
Dazu haben Sie auch das Bundesverfassungsgericht zitiert.
Ja. Das Zitat lautet: »Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf.« Die Ausgrenzung und Verdrängung armutsbetroffener Menschen kann also nicht durch das Unwohlsein, das Menschen angesichts der Konfrontation mit Armut und Bedürftigkeit gegebenenfalls empfinden, gerechtfertigt werden. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat anerkannt, dass Betteln vom Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist. Darüber hinaus ist aus unserer Sicht auch die Meinungsfreiheit verletzt. Betteln appelliert an die Solidarität der Mitmenschen und wirft damit grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders auf. Auch der Eingriff in die Meinungsfreiheit kann durch das Wohlbefinden der Fahrgäste nicht gerechtfertigt werden.
Sie vertreten mit dem Hinz & Kunzt-Verkäufer René einen der Betroffenen vor dem Amtsgericht. Was bedeutet die Strafe für ihn?
Durch das Bettelverbot fühlt sich René ausgegrenzt, weil ihm untersagt ist, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Die Strafe in Höhe von 40 Euro kann er nicht bezahlen, seine Armut wird dadurch nur noch größer. Er muss befürchten, dass er immer weitere Strafen bekommt, wenn er versucht, seine Armut durch Betteln zu lindern.
In immer mehr Städten wird das Betteln im ÖPNV verboten. Wollen Sie mit Ihrer Klage auch bundesweit ein Zeichen setzen?
Die in den Klagen aufgeworfenen Rechtsfragen sind auch für Bettelverbote in anderen Städten relevant. Es geht um die Feststellung, dass Betteln grundrechtlich geschützt ist und nicht pauschal verboten werden kann. Wir wollen auf die zunehmende Verdrängung von wohnungs- und obdachlosen Menschen aufmerksam machen und ihre Rechte stärken. Über 500.000 Menschen sind laut dem Wohnungslosenbericht 2024 in Deutschland wohnungs- oder obdachlos – wir brauchen mehr Präventionsangebote und Housing-First-Programme. Verdrängung und Ausgrenzung sind keine Lösung.
Wie geht es mit Ihrer Klage weiter? Würden Sie notfalls durch die Instanzen gehen?
Wir möchten erreichen, dass das pauschale Bettelverbot in den Beförderungsbedingungen aufgehoben und der grundrechtliche Schutz des Bettelns anerkannt wird. Wir werden hierfür alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen.
Mareile Dedekind ist Rechtsanwältin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)
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