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Aus: Ausgabe vom 22.04.2025, Seite 3 / Ausland
Krieg in der Ukraine

Wenn Generäle plaudern

Hohe Offiziere aus Großbritannien und den USA verraten der Presse, wie es hinter den Kulissen des Ukraine-Krieges zugeht
Von Reinhard Lauterbach
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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij beschenkt Soldaten in Dnipro (27.7.2023)

Ende März hatte die New York Times die Ergebnisse einer Recherche bei mehreren hundert Militärs, Politikern und Geheimdienstlern zur Rolle der USA im Hintergrund des Ukraine-Kriegs veröffentlicht. Zwei Wochen später, am 11. April, zog die Londoner Times mit einem ähnlich umfangreichen Text zum selben Thema aus britischer Sicht nach. Die Parallelität beider Veröffentlichungen wirft die Frage auf, warum sie überhaupt und zum jetzigen Zeitpunkt in die Welt gesetzt worden sind.

Generäle sind als Offiziere normalerweise verpflichtet, die militärische Geheimhaltung zu wahren. Indiskretionen werden im Regelfall von der politischen Spitze nicht gern gesehen. Es sei denn, dieser politischen Spitze liege es ausnahmsweise daran, entsprechende Erinnerungen ihrer führenden Militärs an die Öffentlichkeit geraten zu lassen. Da von keinem der beteiligten Offiziere ein Karriereknick in jüngster Zeit bekannt geworden ist, muss man davon ausgehen, dass die entsprechenden Veröffentlichungen von politischer Seite in Washington und London abgesegnet, vielleicht sogar gewünscht waren. Dazu kommt, dass die militärischen Geheimnisse, unter deren Siegel die Offiziere die Fernsteuerung der Ukraine aus den USA und Großbritannien ins Werk setzten, heute keine mehr sind oder keinen Wert mehr besitzen, weil sie inzwischen von den Tatsachen überholt wurden. Konkret will mit der sich abzeichnenden Niederlage im nachhinein niemand etwas zu tun gehabt haben.

Die Quellen beider Veröffentlichungen stimmen darin überein, dass es im Umfeld der ukrainischen Sommeroffensive 2023 zu erheblichen Zerwürfnissen zwischen den westlichen Führungsoffizieren und der ukrainischen Seite gekommen sein muss. Die US-Seite sei »frustriert« darüber gewesen, dass das ukrainische Militär nicht schneller vormarschiert sei, das ukrainische habe dagegen auf die Schwierigkeiten vor Ort, vor allem die dichten russischen Minenfelder und die Behinderung der Räumarbeiten durch russische Drohnen, verwiesen. So stellt es die Londoner Times dar. Es gab offenbar auch auf der Ebene der Operationsplanung Differenzen: Westliche Offiziere hätten von der Ukraine verlangt, alle Kräfte auf eine einzige Stoßrichtung im Süden des Landes zu konzentrieren und hier den russischen Landkorridor auf die Krim zu durchbrechen; Wolodimir Selenskij dagegen habe unter dem Einfluss seines Militärchefs General Walerij Saluschnij den Druck auf Russland an allen Fronten erhöhen wollen – mit der evidenten Folge, dass die für einen erfolgreichen Angriff nach militärischer Faustregel erforderliche mindestens dreifache Überlegenheit in keinem Abschnitt erreicht worden sei. Außerdem habe die Ukraine mit der Offensive warten wollen, bis all das schwere Gerät, das Anfang 2023 in Ramstein von den westlichen Unterstützern zugesagt wurde, auch im Lande und die Soldaten in seiner Benutzung ausgebildet worden seien. Vor allem die US-Seite habe dagegen versucht, darauf zu bestehen, möglichst rasch loszuschlagen. Man gewinnt aus der britischen Darstellung den Eindruck, die US-Seite habe die Ukraine gedrängt, auch ohne ausreichende Vorbereitung loszuschlagen – eine Strategie, die die britischen Autoren höflich als »from far away, but with little involvement on the ground« beschreiben. Im Klartext: Sandkastenstrategen seien das in Washington gewesen. Der britische Text schreibt den eigenen Generälen das Verdienst zu, eine aufkommende Krise zwischen den USA und Kiew im Spätsommer 2023 nur durch ihre persönlichen Kontakte zu den US-Militärs gerade noch vermieden zu haben. Entscheidend sei eine fünfstündige Sitzung an der polnisch-ukrainischen Grenze im August 2023 gewesen – da war die ukrainische Offensive schon gescheitert. Wenig später sagte der damalige US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf einer Pressekonferenz, die USA würden sich nicht »in den Krieg, den sich Putin aussucht«, hineinziehen lassen – ein deutlicher Hinweis, dass genau dies im Spätsommer 2023 zu geschehen und die NATO ins strategische Hintertreffen zu geraten drohte.

Und natürlich sind es in der Darstellung der interviewten Militärs aus beiden Ländern wieder einmal die zivilen Politiker gewesen, die sie am Siegen gehindert hätten. Auf britischer Seite die Bürokraten des Außen- und des Verteidigungsministeriums, die die ganze Zeit versucht hätten, den Einsatz der »Storm Shadow«-Marschflugkörper zu beschränken; auf der US-Seite laut New York Times ähnliche Kreise in der Biden-Regierung, die aus Angst vor Russland von allem immer »zu wenig und zu spät« geliefert hätten. Es ist noch keine explizite Dolchstoßlegende, aber die reift in der ukrainischen Öffentlichkeit bereits heran: Ohne weitere US-Hilfe werde die Ukraine den Krieg nur noch bis zum Herbst fortsetzen können, wurde am Osterwochenende in Kiew kolportiert. Man beurteile vor diesem Hintergrund die jüngste Aussage des von Berlin inzwischen zur UNO gewechselten ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk: Mit deutscher Hilfe könne die Ukraine den Krieg bis 2028 oder 2029 fortsetzen. Was ist hier bodenloser: das Wunschdenken oder der Zynismus?

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (22. April 2025 um 18:48 Uhr)
    An dieser neuen Art von Dolchstoßlegende arbeiten deutsche Politiker, Massenmedien und von ihnen bestellte »Experten« schon seit längerem. »Die Ukraine im Felde unbesiegt«, aber leider durch Bedenkenträger und falsche Rücksichtnahmen des Westens am Siegen gehindert. Das wird das »Narrativ« sein, das nach Waffenstillstand und Abschluss eines Friedensvertrages immer wieder durch die deutschen Massenmedien, z. B., wabern wird. Revanchismus inbegriffen.

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