Zunehmend zersplittert
Von Dieter Reinisch, Belfast
Wie jedes Jahr gab es am Ostersonntag reges Treiben entlang der Falls Road in der nordirischen Hauptstadt Belfast. Die Straße zieht sich vom Stadtzentrum durch das republikanische Westbelfast in den Stadtteil Andersonstown. An ihrem Ende liegt der Milltown-Friedhof, wo unzählige irische Republikaner beerdigt sind. Vor dem Eingangstor drängten sich Tausende Schaulustige, als die republikanischen Marschkapellen, IRA-Veteranenverbände und eine extra aus dem südöstlichen Wexford angereiste Reenactment-Gruppe in Kostümen des Aufstands gegen die britische Regierung von 1798 an ihnen vorbei zum Friedhof marschierten.
Viel Folklore, viel Tradition, viel Pathos – die irische Variante sozialdemokratischer 1.-Mai-Aufmärsche. Politisch gemäßigt, aber doch mit radikalem Einschlag typischer Sonntagsreden, gab sich zum Abschluss der Parade Pearse Doherty. Der Parlamentarier der republikanischen Sinn Féin (SF) im südirischen Abgeordnetenhaus in Dublin war aus dem westlichen Donegal auf Einladung der National Graves Association angereist. Vor dem republikanischen Monument erklärte er den Anwesenden, dass SF revolutionäre Umwälzungen in Nordirland erreicht habe: »Die unionistische Dominanz ist beendet«, betonte er, da seine Kollegin Michelle O’Neill die erste republikanische Regierungschefin der Provinz ist.
Vorwiegend drehte sich seine Rede jedoch um die Politik in der südlichen Republik: »In der Wiedervereinigung Irlands muss die Regierung an vorderster Front führen.« Doch der Regierungschef, Micheál Martin von der konservativen Fianna Fáil, tue zuwenig. Vergangene Woche hatte dieser in einem Interview mit dem Irish Independent und dem Belfast Telegraph gesagt, dass »es in seiner Legislaturperiode sicherlich keine Abstimmung für eine Wiedervereinigung geben werde« und er sich auch keine Vereinigung der beiden Landesteile »in seinem Leben« vorstellen könne. Doherty entgegnete in Belfast: »Ich verspreche euch, dass es vor Ende des Jahrzehnts zu einer Abstimmung darüber kommen wird.« SF sei im Dubliner Parlament so stark wie noch nie und »die Kraft des Wandels«.
Was die irische Neutralität anbelangt, bekräftigte Doherty, dass die SF eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und eine aktivere Rolle bei UN-Einsätzen fordere. Wenn die Regierung das Land jedoch in die NATO führen wolle, »soll sie eine Volksabstimmung abhalten«. Laut einer am Sonnabend veröffentlichten Umfrage der Irish Times wollen zwei Drittel der Iren an der Neutralität festhalten.
Weniger frequentiert waren die Märsche und Kundgebungen radikaler und militanter Gruppen auf dem Belfaster Friedhof zuvor. Gerade mal einhundert Personen fanden sich ein, um den Hauptredner Sean Carlin, ein ehemaliger Gefangener der Irish National Liberation Army, bei der Veranstaltung der republikanisch-sozialistischen Bewegung zu hören. »Der Kampf geht weiter«, erklärte Carlin unverdrossen. Viel sprach er über die Geschichte des irischen Widerstandskampfs, aktuelle Politik kam in seiner Rede nicht vor. Statt dessen sendete er seine Grüße an jene, die gegen den Imperialismus kämpften: »Von Palästina bis Jemen, vom Libanon bis Donezk.«
Kurz zuvor hatten sich nur einige Dutzend Menschen vor dem Denkmal des Republican Network for Unity (RNU) versammelt. Die linksrepublikanische Bewegung hat sich gespalten: Die Mehrheit um den bewaffneten Flügel Óglaigh na hÉireann hat sich von der RNU getrennt und möchte den im Januar 2018 ausgerufenen Waffenstillstand beenden. Jene, die diese Linie verfolgen, versammelten sich am Sonntag vormittag in Nordbelfast und hatten am Sonnabend auf dem Milltown-Friedhof ihre eigenen Kundgebungen abgehalten. Unweit davon fand sich auch die Belfaster Ortsgruppe von Saoradh (Befreiung) ein, dem politischen Arm der »Neuen IRA« – gerade einmal drei Dutzend Teilnehmer zählte diese Kundgebung.
Obwohl 2024 das erste Jahr ohne Anschläge durch republikanische Gruppen war, betonte die »Neue IRA« in ihrer Ostererklärung, »weiterhin aktiv« zu sein: »Die britische Präsenz in Irland wird nicht durch Zustimmung, sondern durch Gewalt aufrechterhalten«, Widerstand sei »nicht nur gerechtfertigt, sondern auch notwendig«, hieß es.
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