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Aus: Ausgabe vom 22.04.2025, Seite 10 / Feuilleton
Rolf Dieter Brinkmann

Tausende von blühenden Penissen

Hingabe an den Stoff. Brinkmanns Brandflecken
Von Frank Schäfer
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Pop ist nicht gleich Pop: Rolf Dieter Brinkmann raucht sicherheitshalber Kette

Brinkmann sitzt Mitte der Sechziger an seinem ersten, stark autobiographisch gefärbten Roman. Eine frühe Fassung ist 1966 fertig, als sein Freund Rygulla wieder zurück nach Köln kommt und auch eine Weile bei ihm wohnt. Die Niederschrift fällt also genau in jene Zeit, in der sich Brinkmann mit der deftigen, gerade auch in ihrem Stilgestus auf Krawall gebürsteten US-Underground-Literatur bekannt macht und immer stärker mit ihr identifiziert. Die frühe Version genügt schließlich nicht mehr den sich veränderten Ansprüchen. Eine Überarbeitung wird nötig, die Brinkmanns Hinwendung zum Pop und Underground stärker Rechnung trägt, was man seiner Prosa dann auch anmerkt. Der Roman, der erst 1968 unter dem Titel »Keiner weiß mehr« erscheint, ist deutlich zeigefreudiger und expliziter in sexuellen Dingen. Das führt sofort zu Verstimmungen im Literaturbetrieb. Vorabveröffentlichungen müssen entsprechend domestiziert werden oder kommen gar nicht erst zustande. Sein geschäftstüchtiger Verlag Kiepenheuer & Witsch macht eine Marketingidee daraus und legt dem Buch einen Verpflichtungsschein bei, was sonst nur bei Bückware Verwendung findet und den Schutz von Minderjährigen garantieren soll. Und die Pawlowschen Reflexe funktionieren einmal mehr einwandfrei. Die katholische Kirche setzt das Buch sofort auf den Index. Und einen selbsternannten Jugendwart, der die angebliche »Verbreitung unzüchtiger Schriften« mit einer Strafanzeige gegen den Verleger Reinhold Neven DuMont unterbinden will, gibt es auch immer. Damals. Letztlich zahlt es sich aus, auch weil die Presse mitspielt und von »Schleimhautliteratur« oder »Kölnisch Abwasser« salbadert. Das Buch geht noch im Erscheinungsjahr in die vierte Auflage, man verkauft Taschenbuch- und Übersetzungsrechte, es wird Brinkmanns monetär erfolgreichstes Buch zu Lebzeiten. Mit Abstand.

Beinahe monoperspektivisch aus der Sicht des Mannes schildert er hier in gewohnt skrupulösem Pointillismus, aber doch etwas konventioneller, geschlossener und immerhin mit hauchdünnem Plotfaden den problematischen, von Enttäuschungen, Missverständnissen, Streitigkeiten begleiteten und schließlich auch gewalttätigen Alltag eines jungen Ehepaars mit Kleinkind.

Schon Karl Heinz Bohrer erkennt in seiner FAZ-Rezension im Erscheinungsjahr die neue Qualität dieser Prosa. Brinkmann räumt hier der zeitgenössischen Mode, Musik, Werbung und dem Kino als kulturellen Äußerungen Raum ein, wie das hierzulande noch kein Literat vor ihm gemacht hat. Bohrer bezeichnet »Keiner weiß mehr« zu Recht »als ersten genuin entwickelten deutschen ›Pop‹-Roman« und meint das nicht unbedingt als Lob. Er nimmt hier nämlich eine Abkehr von der »Literatur als ›Kunst‹« wahr, an dessen Stelle »eine neue, fast fanatische Hingabe an den ›Stoff‹« tritt. Nun, das eine schließt das andere ja nicht unbedingt aus. Aber wer popkulturelle Anspielungs- und Hallräume nicht kennt oder bewusst ignoriert, Songtexte der Rolling Stones oder Fugs etwa, dem kann er natürlich auch kunstlos vorkommen.

Die populäre Kultur gehört zum ästhetischen Spielmaterial des Autors, trotzdem nimmt Brinkmann hier keine bloß affirmative Perspektive ein. Mit ihren enormen Reiz- und Sensationswerten ist sie Teil einer Konsumwelt, die das Nervensystem des Protagonisten malträtiert und, schlimmer noch, sein Bewusstsein zurichtet. Ob Brinkmann das Kulturindustriekapitel in Horkheimers/Adornos »Dialektik der Aufklärung« bereits kannte, oder ob man durch peinlich genaue Introspektion zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen kann, würde ich gern wissen.

Aber Pop ist eben nicht gleich Pop. In einer langen Hasstirade zählt er noch einmal akribisch die Feindbilder auf, von Hans-Jürgen Bäumler, Marika Kilius und dem »Pepsi-Mädchen Gitte« bis zur »Palmolive-Frau«, der »Luxor-Schönheit Nadja Tiller« und »Onkel Tchibo auf Reisen«, die man seiner Ansicht nach alle »zusammenficken« sollte. Guter Pop ist bei ihm gleichbedeutend mit Protest gegen die Alten – und den findet er im Underground. Die revolutionäre, antikapitalistische, eine neue Sensibilität einübende Gegenkultur, die er im Jahr darauf in seiner »Acid«-Anthologie breit dokumentiert, wird hier zumindest schon mal angeteasert.

In den letzten Sätzen des Romans verheißt der beginnende Frühling nicht nur einen Neuanfang für das Paar. »Tausende von blühenden Penissen, blumige Fotzen kleiner Mädchen auf einer weiten Wiese im Park im Ringelreihen, Gedichte, die von selbst entstanden, Mutationen massenhaft.« Brinkmann plant schon mal die freundliche Übernahme.

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