Der Erbsbär lebt hier immer noch
Von Sabine Lueken
Der Erbsbär, ein bedrohlich wirkendes Ungetüm aus Stroh, unter dem ein junger Mann steckt, der an einer Kette durchs Dorf geführt wird, gehört zum traditionellen Kirmesbrauchtum in einigen Regionen Thüringens. Auch auf einem von Ute Mahlers Fotos in der Ausstellung der Berliner Akademie der Künste taucht er auf. Allein auf menschenleerer Straße muss er aufpassen, nicht überfahren zu werden. Die Straße führt durch Berka an der Wipper, ein 900-Seelen-Dorf in der Mitte Deutschlands, im Kyffhäuserkreis in Thüringen.
Dort ist die Fotografin und Mitgründerin der berühmten Ostberliner Fotoagentur Ostkreuz geboren und aufgewachsen – und wollte ein Werk vollenden, das ihr Vater begonnen hatte. Ludwig Schirmer war Müllermeister und dokumentierte als Autodidakt von 1950 bis 1960 mit der Kamera das Leben in seinem Heimatdorf. 1961 zog er mit der Familie nach Oranienburg und wurde in Berlin einer der erfolgreichsten Werbefotografen der DDR.
Ute Mahlers Ehemann Werner, ebenfalls Ostkreuz-Mitbegründer, hatte 1977 die Idee, für seine Diplomarbeit an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst in Berka zu fotografieren, allerdings ohne von den Arbeiten seines Schwiegervaters, dessen Assistent er war, zu wissen. Die Großeltern seiner Frau lebten noch immer in der Mühle, der Großvater hatte die Arbeit des Müllers übernommen. Später bekam Mahler dann noch einen Auftrag der Illustrierten Stern, erneut in Berka zu fotografieren. Ute Mahler fand nach dem Tod ihres Vaters 2001 dessen Bilder im Nachlass – und war überwältigt: von den Erinnerungen an ihre Kindheit, aber auch von der Qualität der Aufnahmen.
So gibt es jetzt vier Werkserien, alle in Schwarz-Weiß, Fotos aus siebzig Jahren: eine einzigartige Langzeitstudie von hohem soziologischen und ästhetischen Wert – zu sehen in der Ausstellung und in einem überzeugend gestalteten Künstlerbuch.
Schirmers Fotos, manche von traumhafter Eleganz, erinnern an Henri Cartier-Bresson. Trotz der handfesten Protagonisten und Sujets vibrieren sie vor Leben; vor allem die Jugendlichen wirken voller Hoffnungsfreude – bereit für den Aufbruch in eine Zukunft nach dem Krieg. Man sieht aber auch einen Einbeinigen in der Reihe der Feiernden, die Schwere der Arbeit auf dem Feld, wo die Rüben von den Frauen noch mit der Sichel geerntet werden. Man sieht die flirrende Luft an einem heißen Sommertag auf dem Feldweg mit Pferdewagen, die Menschen bei Dorffesten und goldenen Hochzeiten. Manche der Aufnahmen könnten aus dem 19. Jahrhundert stammen, wo es Pferdefuhrwerke gab, die Wurst in Hausschlachtung produziert und bei festlichen Anlässen der gute Anzug getragen wurde. Die Straßen und Wege im Dorf sind überfüllt mit Menschen. Der Fotograf war einer von ihnen und konnte unverstellte Porträts aufnehmen.
Werner Mahler war kein Hobbyfotograf wie Schirmer, er kam 1977 als Reporter, aber er war auch kein Fremder. Man sieht auf den Bildern, dass sich die Dorfbevölkerung inzwischen eingerichtet hat. Man posiert vor der Schrankwand, feiert im Garten neben einem Schwimmbecken – noch ohne Wasser – oder sitzt draußen am Tisch neben dem Trabi und trinkt ein Feierabendbier. Anlässlich der Jugendweihe dürfen die Jungs in Sakko und Krawatte ein Gläschen Eierlikör trinken, die Mädchen zeigen in einheitlichen Beathosen eine Tanzvorführung unter freiem Himmel. Die Dorfstraße ist gepflastert, das Wohnzimmer frisch tapeziert mit geometrischen Mustern. Die Einrichtung ist neu, aber das Zusammenleben immer noch eng. Auch den Erbsbär, die Hausschlachtung und das Wurstmachen gibt es noch. Die Menschen wirken ein bisschen melancholischer, die Jugendlichen abgeklärter, härter als 20 Jahre zuvor.
Die Fotos Werner Mahlers von 1998 lassen einen größeren Wandel erkennen. Der Kaliabbau, der das Dorf und die Region zuvor geprägt hat, ist abgewickelt, viele sind weggezogen, bei den Zurückgebliebenen macht sich Frust breit. Die »blühenden Landschaften« nach dem Mauerfall, die der Stern seinen Lesern zeigen wollte, waren ausgeblieben, die Fotos – noch dazu entgegen dem Auftrag in Schwarz-Weiß – missfielen und wurden nicht gedruckt.
Als Ute Mahler 2021/22 wiederkam, konzentrierte sie sich auf Porträts junger Mädchen, die vierzehn waren – in jenem Alter also, in dem sie selbst einst das Dorf verlassen hatte. Spontane Straßenfotografie war nicht möglich; Mahler musste sich verabreden. Die jungen Leute posieren mehr oder weniger, blicken dabei meist ernst und gefasst in die Kamera – in eine ungewisse Zukunft. Die Häuserfassaden sind mit Garagentoren und Fertigteilen aus dem Baumarkt normiert, das Fachwerk verschwunden, die Vorgärten folgen dem Trend zur pflegeleichten Trostlosigkeit – kastig oder eiförmig gestutzte Hecken, alles mit Kies und Steinen tot gepflastert. Auf der Straße: Leere. Nur hin und wieder ragt ein SUV zwischen den Häusern hervor.
Oder der Erbsbär taucht auf – ein Relikt aus einer anderen Zeit. Der Wandel ist spürbar, das Leben hat sich verändert.
»Ein Dorf 1950–2022«. Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10117 Berlin, bis 4. Mai 2025
»Ein Dorf 1950–2022«. Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer. Texte von Jenny Erpenbeck, Anja Maier, Steffen Mau, Gary Van Zante. Hartmann Books, Stuttgart 2024, 252 Abbildungen, Deutsch/Englisch, 362 Seiten, 68 Euro
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