Nakba als tägliche Erfahrung
Von Helga Baumgarten
Tödliche Übergriffe durch die israelische Armee und durch radikale Siedler sind grausamer Alltag im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem: Am Mittwoch wird der zwölfjährige Junge Mahmud Abul Hadscha in Jamun bei Dschenin bei einem Angriff der Armee erschossen. Einen Tag zuvor attackieren israelische Siedler das Dorf Sindschil auf der Straße von Ramallah Richtung Nablus, unterstützt von der Armee. Sie zünden ein Haus an und greifen die Bewohner sowie die zur Hilfe eilenden Nachbarn an. Die Armee schießt mit Tränengas. Ein Soldat schlägt dem Eigentümer des angezündeten Hauses, Wael Ghafari, 48 Jahre alt, mit einer M-16-Maschinenpistole auf die Brust. Er muss Rauch vom brennenden Haus und Tränengas einatmen, erleidet einen Herzanfall und stirbt.
Am 19. April attackieren Siedler und Armee das Dorf Al-Rakiz südlich von Hebron im Masafer-Yatta-Gebiet. Der sechzigjährige Said Rabaa, der seinem Sohn, den die Siedler angegriffen haben, helfen will, wird angeschossen und verliert sein Bein. Nicht die Siedler, sondern er und sein Sohn, ein Teenager, werden in Haft genommen. Am selben Tag besucht der besatzungskritische israelische Journalist Gideon Levy das Dorf Wadi Fukin bei Bethlehem, wo die Armee einige neugebaute Häuser – ohne Genehmigung, da die Palästinenser eine solche sowieso nie bekommen würden – in der Woche zuvor zerstört hatte. Der Besitzer und seine gesamte Familie werden brutal zusammengeschlagen. Ein anderer Verwandter muss alles vom Dach seines Hauses aus beobachten. Er erleidet einen Herzanfall und stirbt auf der Stelle.
Am 7. April erschießt die Armee in Turmusaaja einen vierzehnjährigen palästinensischen Jungen mit US-amerikanischem Pass. Laut Familie war er zusammen mit seinen Cousins dabei, grüne Mandeln von den Bäumen zu ernten – doch laut Armee habe er Steine geworfen, war also ein »Terrorist«. »Defence for Children International« berichtet, dass das Militär allein seit Jahresbeginn 22 Kinder in der Westbank getötet hat. In Verlautbarungen der Armee werden grundsätzlich nur Soldaten oder Siedler angegriffen, die sich deshalb gegen die palästinensischen »Terroristen« verteidigen müssen. In der kritischen israelischen Presse, ob Haaretz oder +972, heißt es, dass man der Armee besser nicht glauben sollte.
Die rassistischen Siedler werden trotz aller Gewalt, die sie ausüben, so gut wie nie verhaftet. Gleichzeitig kooperiert die Armee fast durchweg mit ihnen, und es gibt viele personelle Überschneidungen. Einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Jesh Din vom Januar zufolge genießen sie »Immunität für ihre Gewalttaten«. Mit der systematischen Gewalt sind sie ein wichtiger Arm des Siedlerkolonialismus in der Westbank. Das Ziel wird offen proklamiert: palästinensisches Land rauben und die Besitzer vertreiben. Und das Haaretz-Editorial vom 22. April ist überschrieben mit »Schaut nicht weg. Die Annexion der Westbank ist schon da«. Denn unter dem rechtsextremen Finanz- und Siedlungsbauminister Bezalel Smotrich wird die Verwaltung der Westbank sukzessive von der Armee auf die Siedler übertragen – ein wichtiger Schritt von militärischer Besatzung hin zur Annexion.
Derweil hören wir, so Joseph Gedeon im Guardian am 23. April, vom derzeit durch die USA ziehenden israelischen Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, einem verurteilten Rassisten und Terrorunterstützer, wie er sich bei führenden Republikanern bedankt: »Sie unterstützen meine klare Position, wie wir in Gaza vorgehen müssen, dass wir nämlich Nahrungs- und Hilfsdepots bombardieren, um militärischen und politischen Druck zu schaffen, damit die Geiseln in Sicherheit heimgebracht werden können.« Die Menschen in Gaza sind den kontinuierlichen Kriegsverbrechen der Armee schutzlos ausgeliefert.
Am Freitag kommt ein neuer Alarmaufruf von UNRWA-Chef Philippe Lazzarini: »Wie lange wird es noch dauern, bis leere Worte der Verurteilung zu konkretem Handeln werden, zu einem Ende der Belagerung durch die israelische Armee, zu einem Waffenstillstand und zur Rettung von dem, was noch an Menschlichkeit existiert. Hunger verbreitet sich und wird schlimmer, alles mit Absicht und von Menschen geschaffen.« Am Holocaustgedenktag am Donnerstag steht derweil Gideon Levy in Tel Aviv und denkt an seine Großeltern in Prag – und an Gaza.
Dies ist der 36. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit
Siehe auch
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Jehad Alshrafi/AP Photo/dpa23.04.2025
Todeszone Gaza
- Mahmoud Issa/REUTERS19.04.2025
Das Tor zur Hölle
- Majdi Fathi/NurPhoto/imago17.04.2025
Vor dem Kollaps
Mehr aus: Ausland
-
»Sie leisten Widerstand gegen gezielte Massaker«
vom 26.04.2025 -
Nelken in den Gewehren
vom 26.04.2025 -
EU und Kiew mit Gegenplan
vom 26.04.2025 -
Kriegsspiele werden größer
vom 26.04.2025 -
Kratzer an Jordaniens Thron
vom 26.04.2025