Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Kinder, Beilage der jW vom 29.05.2024
Häusliche Gewalt

»Dann hat es auch in meinem Bauch gekribbelt«

Über häusliche Gewalt unter Beziehungspartnern und inwiefern Kinder darunter leiden. Ein Gespräch mit Brigitte Seifert-Taglieber
Von Lena Reich
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Frau Seifert-Taglieber, wie steht es derzeit um das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland?

Da auch ich noch zu einer Zeit groß geworden bin, in der es normal war, dass Gewalt gegenüber Kindern ausgeübt wird, und in der man durchaus mitbekommen hat, dass in der Nachbarwohnung eine Person geprügelt wird, kann ich sehr wohl behaupten: Es geht immer besser. Seit Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben hat und die dann 1992 in Kraft getreten ist, gibt es eine erste Generation, die das Recht auf gewaltfreie Erziehung größtenteils kennt und somit auch weitergeben kann. Eine positive Entwicklung.

Mit Corona hat auch häusliche ­Gewalt wieder zugenommen. Was genau versteht man unter häuslicher Gewalt?

Die häusliche Gewalt ist nicht die Gewalt gegenüber Kindern, sondern die Gewalt zwischen erwachsenen Beziehungspartnern oder auch Paaren, die in Trennung leben. Gerade in der Trennungszeit kommt es häufig zu Übergriffen. Wenn ein Elternteil Gewalt erlebt und Kinder das mithören oder mitansehen müssen, dann ist das auch für sie Gewalt. Sie sind dann auch Opfer häuslicher Gewalt.

Für Kinder ist diese Erfahrung besonders schlimm. Sie haben eine enge Bindung zu ihren Elternteilen …

Man hat festgestellt, dass Kinder nicht unterscheiden, ob sie selbst die Gewalt erfahren oder die Eltern. Das ist neurologisch messbar. Es werden dieselben Regionen im Gehirn aktiviert – als würde das Kind selbst Gewalt erfahren. Kinder, denen das passiert ist, erinnern sich daran: »Wenn’s dann passiert ist, dann hat es auch in meinem Bauch so gekribbelt.«

Wo beginnt häusliche Gewalt?

Es ist die Haltung eines Elternteils: Ich will über jemanden Macht und Kontrolle haben. Dazu gehören auch Erniedrigungen, Beleidigungen, Demütigungen, denn sie sichern diese Macht. »Kuh«, »Hure«, »Du bist hässlich« oder »Du bist so dumm« sind Ausdrücke, die Kinder im Streit zwischen den Eltern häufig aufnehmen. Intuitiv spüren sie, dass das, was zwischen den Eltern gesagt wird, nicht in Ordnung ist. In diesen Fällen sprechen wir von »Ohrenzeugen«.

Was ist, wenn ich Augenzeuge einer Szene auf der Straße werde?

Wenn diese Gewalt zwischen Beziehungspartnern, egal welchen Alters, auf der Straße passiert, dann zählt das ebenfalls zur häuslichen Gewalt – und ich kann als Zeuge Anzeige erstatten. Das gilt im übrigen auch für Jugendliche. Gerade wenn Teenager die ersten eigenen Liebesbeziehungen eingehen, kommt es auch immer wieder zu Gewalt, etwa wenn der Freund das Mädchen kon­trolliert oder schlägt und im nachhinein sagt: »Ey, komm. Das war doch so nicht so gemeint.«

Worin besteht der Unterschied zu einem Streit?

Ein Konflikt ist immer etwas Gleichberechtigtes. Bei häuslicher Gewalt ist ganz eindeutig diese Symmetrie nicht vorhanden. Die geht von einer Richtung aus und wiederholt sich ständig. Das Strafgesetzbuch StGB legt fest, was alles unter häusliche Gewalt fällt, wie etwa Paragraph 185, der regelt, dass Beleidigungen auch mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden können. Bei einem Konflikt, der sich wie Gewalt anfühlt, können sich Frauen jederzeit an Hilfestellen wenden oder Hilfsangebote des Jugendamtes in Anspruch nehmen.

Wie häufig werden Kinder in die Konflikte mit hineingezogen?

In allen Fällen häuslicher Gewalt, in denen Kinder Zeuge sind, sind sie Opfer. Und das ist meistens der Fall. Ich kannte mal einen Jungen, der hat mir erzählt, dass der Expartner der Mutter ihm ein Handy geschenkt hat, über das er sich stets nach der Mutter erkundigte. So werden Kinder instrumentalisiert. Sie leiden seelisch. Die Kinder sagen oft, dass diese Gewalt im Herzen wehtut. Andere Kinder erfahren auch Formen finanzieller Gewalt: Zum Beispiel wenn der Mutter das Haushaltsgeld vorgeschrieben wird oder der Vater ihr verbietet zu arbeiten, mit dem Argument, das Kind nicht zu vernachlässigen und sich um die Erziehung zu kümmern. Diese Form der Gewalt ist noch am wenigsten erforscht.

Wie geraten Mütter da rein?

Viele der Frauen haben ein geringes Selbstwertgefühl und lassen sich schnell einschüchtern. Dabei sind viele von ihnen berufstätig, halten die Familien am Laufen, sind studiert – und fallen mit der Geburt der Kinder in eine Abhängigkeit. Gewalt gegen Frauen ist aber auch historisch gewachsen. Bis 1926 hatten Männer das Recht, ihre Ehefrauen zu schlagen und körperlich zu züchtigen. Erst seit 1958 dürfen Frauen selbst ein Konto eröffnen. Bis 1977 durfte der Ehemann zum Arbeitgeber einer Frau gehen und sagen, er möchte nicht mehr, dass seine Frau dort arbeitet, weil sie ihre häuslichen Pflichten nicht mehr erfüllt. Und erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe als eine Straftat anerkannt.

Ist häusliche Gewalt ein Männer­thema?

Es ist egal, ob es sich um eine deutsche, vietnamesische oder chinesische Familie handelt: Es sind Männer, die denken, sie haben das natürliche Recht, Macht zu haben und als der häufig körperlich Stärkere über das sogenannte schwache Geschlecht zu bestimmen. Das äußert sich in verbaler Gewalt, Wutanfällen, Sachbeschädigungen bis zu körperlicher Gewalt. Und das kann auch zum Femizid führen, bis hin zum Tod also.

Welche Rolle spielt das Einkommen?

Es ist nicht so, dass Menschen, die in Armut leben oder wenig Bildung haben, mehr häusliche Gewalt erfahren. Ein Drittel der Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, verdienen ihr eigenes Geld, manche sind beruflich sehr erfolgreich. Häusliche Gewalt ist ein Symptom einer patriarchalen Gesellschaft. Es kann Stressfaktoren geben, die begünstigen diese Gewalt, dazu gehören Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen, der Tod eines geliebten Menschen oder auch die Geburt eines Kindes. Aber diese Faktoren sind nicht Ursache der Gewalt. Die Ursache ist Macht.

Wie häufig erleben Kinder aus der bürgerlichen Mitte diese Gewalt?

Wie verbreitet häusliche Gewalt in der Mitte ist, kann man kaum sagen. Ich empfehle dazu den Film »Festung« (2011), der zeigt, wie die Gewalt nicht ans Tageslicht kommen darf. Viele Betroffene kommen nämlich gar nicht im Frauenhaus an, sie gehen in ein Hotel oder ziehen alleine aus. Nach außen scheint die Familie eine ganz normale Trennung zu durchleben. Derzeit läuft die erste deutschlandweite Dunkelfeldstudie zu häuslicher Gewalt, die 2025 vom Bundesfamilienministerium veröffentlicht werden soll. Bisher gibt es nur eine Hellfeldstudie, sie wurde in Deutschland 2004 gemacht. Jede vierte Frau gab dort an, mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von häuslicher Gewalt geworden zu sein.

Über diese häusliche Gewalt klärt die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) mit kostenlosen Workshops in Schulen ab Klassenstufe vier auf. Wie gehen Sie vor?

Wir arbeiten mit einem ganzheitlichen Ansatz, der ist unabdingbar. Bevor wir überhaupt mit den Kindern arbeiten, machen wir eine Fortbildung mit den Lehrkräften und bereiten die Eltern bei einem Elternabend darauf vor, dass wir diesen Workshop halten werden. Denn immer dort, wo wir präventiv arbeiten, kommen Situationen ans Licht. Kinder offenbaren sich uns oder den Lehrkräften. Und die müssen dann wissen, was zu tun ist bei häuslicher Gewalt. Wie sie Gespräche mit den Kindern führen, die möglicherweise das Gefühl haben, ihre Eltern zu verraten. Wie kann ich da angemessen reagieren? Und was schreibt mir das Gesetz vor? Denn wir reden ja auch über eine Gefährdung des Kindeswohls.

Wie gestalten Sie die Workshops mit den Kindern?

Zunächst reden wir über Gefühle und finden heraus, wie man die Gefühle anderer erkennen kann. Woran erkenne ich, ob es beispielsweise meiner Freundin schlecht geht? Oft fehlt es Kindern an Worten. Und wer nicht die richtigen Worte kennt oder findet, kann sich auch schwer Hilfe holen. Was die Kinder vor allem lernen, ist, dass Gefühle immer wichtig sind. Manchmal versuchen Erwachsene ja, Kindern Gefühle auszureden – etwa Angst.

Dabei ist Angst ein Schutzgefühl.

Viele Kinder, die häusliche Gewalt erlebt haben, haben Angst und lassen ihre Mutter meist ungern alleine. Sie möchten manchmal nicht in die Schule, weil sie sich so sehr sorgen und sie sie beschützen wollen. Da Kinder, die häusliche Gewalt erleben, aufgrund ihrer Erfahrungen ein erhöhtes Risiko haben, wieder in gewaltgeprägten Beziehungen zu landen, arbeiten wir auch zum Thema Wut: Was kann ich mit meiner Wut machen? Wie kann ich sie so umlenken, dass sie nicht zerstörerisch ist oder ich andere nicht verletze? Wir haben eine Übung, in der die Kinder aufschreiben, was sie so wütend macht, dass sie platzen könnten. Den Zettel stecken wir in einen Ballon und lassen ihn dann mit einer Nadel platzen.

BIG arbeitet einen Teil der Zeit mit Jungen* und Mädchen* getrennt. Wie reagieren die Kinder auf die Übungen?

Es gibt immer noch diese Schere: Jungs reagieren eher laut und aggressiv. Mädchen bleiben leise und machen alles innerlich aus. Viele Mädchen zum Beispiel behaupten, sie kennen das Gefühl Wut gar nicht. Wir fordern alle auf, sich eine Situation vorzustellen, in der sie sehr wütend sind, und dann laut »Stopp!« zu sagen. Da gibt es Kinder, die werden überhaupt nicht laut. Wir trainieren das mit ihnen, körperlich und stimmlich. Immerhin geht es darum, ihre persönliche Grenze zu verteidigen. Dabei wissen viele Kinder, dass sie in der Öffentlichkeit das Recht haben, sich zu wehren. Aber die wenigsten wissen, dass das auch für den privaten Bereich gilt.

Sie haben insgesamt vier Treffen mit den Klassen. Nach einer Aufwärmung widmen Sie sich am zweiten Tag explizit dem Thema Gewalt. Wie genau gehen Sie vor?

Wir nehmen Situationen aus dem Alltag und decken ab, was für wen Gewalt ist. Also: Mehrere Kinder schließen beim Spielen ein Kind aus. Ein Geschwisterkind schlägt das andere. Ein Mann verbietet seiner Frau, ihre Familie zu besuchen. Bei diesem Beispiel sagen die wenigsten, dass es sich um Gewalt handelt. Die meisten finden, dass der Mann die Frau beschützen will, weil er sie liebe und schützen wolle. Dabei beginnt im Regelfall die häusliche Gewalt genau so. Der Partner schreibt der Partnerin vor, wen sie besser nicht treffen sollte, geht an ihr Handy, überrascht sie im Urlaub mit der besten Freundin und ist stetig in Kontakt mit ihr – mit lieben Anrufen und Nachrichten. Er will nur ihr Bestes. Mit den Kindern gehen wir verschiedene Stufen der Gewalt durch. Ob etwas Gewalt ist, bestimmt immer die Person, die der Gewalt ausgesetzt ist.

Sie zeigen dann den Kindern einen Film, der auch auf Ihrer Website zu sehen ist. Was passiert, wenn Kinder bereits dort auffällig reagieren, zum Beispiel rausgehen, weinen oder reden?

Wir bieten allen Kindern an, mit uns alleine zu sprechen, so dass nicht die ganze Klasse davon erfährt. Wenn es dann tatsächlich Sorge gibt, dass ein Kind in Gefahr ist – und häusliche Gewalt ist ein Indikator für eine Kindeswohlgefährdung –, haben Kinder das Recht, Hilfe zu bekommen. Und diese Hilfe muss von Erwachsenen kommen. Kindern geht es dann häufig schlecht, sie haben zum Beispiel Kopf- oder Bauchschmerzen. Sie haben ein richtiges Gefühl, das ihnen zeigt, dass etwas nicht stimmt und das aufhören muss. Aber es hört nicht von alleine auf. Das heißt, wir arbeiten dann mit den Kindern darauf hin, dass sie Hilfe bekommen.

Was heißt das konkret?

Wenn sich ein Kind uns anvertraut, dann haben wir ein Auswertungsgespräch mit den Lehrkräften und Schulsozialarbeitern und gucken gemeinsam, wie weiter vorgegangen werden könnte oder ob gerade Leib und Leben in Gefahr sind. Auch bei solchen brenzligen Situationen gilt die alte Regel: einen Schritt nach dem anderen machen und Ruhe bewahren. Häufig versuchen wir, alleine mit der Frau zu sprechen. In meiner gesamten Laufbahn kam es allerhöchstens fünfmal vor, dass das Jugendamt sofort eingeschaltet werden musste. Wegen häuslicher Gewalt, aber auch, weil Kinder direkt Gewalt erleiden.

Viele Kinder machen dennoch einen Rückzieher

Natürlich passiert es auch, dass Kinder im nachhinein sagen, sie hätten mit den Eltern geredet und nun sei alles wieder gut. Oder sie hätten die Geschichte nur erfunden. Sie merken nämlich, dass sie ernst genommen werden, haben Schuldgefühle und Gewissensbisse. Sie lieben ja ihre Eltern nicht weniger als die Kinder, bei denen der Alltag nicht von Gewalt geprägt ist. Am Ende des Workshops schreiben die Kinder u. a. einen Comic und füllen Denk- und Sprechblasen unter dem Motto aus: »Stell dir vor, deine beste Freundin … was rätst du ihr?«

Wie kommen die Workshops an?

Im Schnitt bekommen wir sehr gute Rückmeldungen. Die Kinder sagen aber auch, dass sie es teilweise anstrengend finden, weil wir konzentriert zusammensitzen. Eines der Highlights für die Kinder ist oft ein Liveanruf beim Kindernotdienst, mit dem wir kooperieren. Die Kinder überlegen sich vorher Fragen wie: Wohnen auch Kinder bei euch? Gibt es bei euch auch etwas zu essen? Wann seid Ihr erreichbar?

Brigitte Seifert-Taglieber ist Mitarbeitende von BIG Berlin – Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Als Diplompädagogin, Kinderschutzfachkraft nach Paragraph 8a SGB VIII, und Traumapädagogin mit dem Schwerpunkt Bildungsarbeit an Schulen im Bereich Gewaltprävention, gibt Seifert-Taglieber kostenlose Präventionskurse an Berliner Schulen. In Zusammenarbeit mit Kindern, Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen behandelt sie das Thema Häusliche Gewalt. Darüber hinaus arbeitet Seifert-Taglieber als Dozentin in der Erwachsenenbildung zu den Themen (gewaltfreie) Kommunikation und Mobbinginterventionsmethoden und in der psychosozialen Beratung von Kindern und jungen Erwachsenen in Krisen.

Lena Reich ist freie Journalistin aus Berlin und arbeitet u. a. für »Arte-Journal«.
Seit 2018 leitet sie das Müllmuseum Soldiner Kiez.

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