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Aus: Ausbildung, Beilage der jW vom 05.06.2024
Beilage Ausbildung

Primat der Verwertbarkeit

Auch die Ampelregierung kann den Widerspruch von vorgeblich freier Entfaltung und Teilhabe beim Druck zu lebenslanger Ausbeutung nicht lösen
Von David Maiwald
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Das Schulsystem sortiert vor, wer seine Arbeitskraft verkaufen muss – oder die »Wertschöpfung« verwalten darf

Es gebe da ein »Passungsproblem zwischen Bewerberinnen und Bewerbern und auch angebotenen Stellen«, so die scharfsinnige Analyse von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) angesichts zehntausender unbesetzter Ausbildungsstellen im vergangenen Jahr. Der aktuelle Berufsbildungsbericht der Bundesregierung zählte 2023 mit 489.200 abgeschlossenen Ausbildungsverträgen ein paar Prozente mehr als im Vorjahr. Vor 25 Jahren wurden mit 631.015 aber noch knapp 22,5 Prozent mehr Berufsausbildungen begonnen.

Dabei sagen angebotene und begonnene Ausbildungsplätze nicht einmal alles: Nach aktuellsten Zahlen werden von den geschlossenen Ausbildungsverträgen beinahe ein Drittel (29,5 Prozent) vorzeitig gelöst (2022). Weniger als die Hälfte (47,6 Prozent) derer, die ihre Ausbildung fortsetzen, würden diese auch in ihrem dritten Lehrjahr noch weiterempfehlen, fand der Ausbildungsreport der DGB-Jugend im vergangenen Jahr heraus. Der Regierungsbericht bemerkte nun etwa, dass das Hotel- und Gastgewerbe besondere Schwierigkeiten habe, offene Stellen zu besetzen. Dort ist die Unzufriedenheit und Abbrecherquote übrigens besonders hoch.

Immer mehr Menschen in der Bundesrepu­blik haben keinen Berufsabschluss. Im vergangenen Jahr waren das 2,86 Millionen Menschen. Die Anzahl unbesetzter Stellen hat in den vergangenen 25 Jahren von 23.400 auf 73.400 zugenommen. Gejammer um Fachkräftemangel von Politkern und Unternehmern dürfte für die mehr als 26.000 jungen Leute, die im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz finden konnten, wie ein Schlag ins Gesicht wirken.

80.000 Arbeitsplätze könnten im Handwerk künftig wegfallen, hatte der Zentralverband im Mai erklärt, während die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) unzureichende »Wertschöpfung« durch bundesweit 1,5 Millionen unbesetzte Stellen beklagte. Die Lösung: frühere Renteneintritte abschaffen, Arbeitszeit erhöhen. Letztere liege mit durchschnittlich 35 Wochenstunden unter dem EU-Wert von 37,5, so die DIHK. Das kapitalnahe IW brachte dazu noch die Streichung von Feiertagen ins Spiel.

Doch arbeiten Beschäftigte ohne Tarifbindung gegenüber tarifgebundenen, aktuell schon eine Arbeitswoche mehr im Jahr – bei mehr als einem Monatsgehalt weniger, wie das Institut WSI der Hans-Böckler-Stiftung Ende Mai feststellte. Und immer mehr Betriebe ziehen sich raus: Arbeiteten im Jahr 2000 mit 68 Prozent noch mehr als zwei Drittel der Beschäftigten tarifgebunden, tun es aktuell weniger als die Hälfte (49 Prozent). Beschäftigte ohne Tarifvertrag kloppen in Baden-Württemberg aktuell fast anderthalb Stunden pro Woche mehr (83 Minuten) – bei durchschnittlich 10,7 Prozent weniger Lohn. Schlusslichter beim Lohnabstand sind Brandenburg mit 15 Prozent, Sachsen und das Saarland mit jeweils um die 13 Prozent.

Unsichere Arbeitsbedingungen bei längeren Arbeitszeiten und spätem Renteneintritt (wenn überhaupt) als Perspektive sind in der Tat ein »Passungsproblem«. Etwa die Pflege ist und bleibt seit Jahren ein Beispiel des sich verschärfenden Mangels an Fachkräften wie Auszubildenden. Aktuell fehlen laut Pflege­rat 115.000 Vollzeitkräfte, in den kommenden zehn Jahren könnten es 500.000 werden. Doch eine Verbesserung von Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen lässt auf sich warten. Die Ampel setzt vielmehr auf Anwerbung von Fachkräften im Ausland, die sich, begleitet von einem rassistischen Diskurs, verschärft ausbeuten lassen sollen. Der Widerspruch vorgeblich freier Entfaltung des Individuums bei gleichzeitigem Druck zu schneller Verwertbarkeit bleibt.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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